Der Ego-Tunnel
Hause. Menschliches Bewusstsein zeichnet sich durch verschiedene Formen von Innerlichkeit aus, die sich gegenseitig beeinflussen: Erstens ist es ein interner Vorgang im zentralen Nervensystem; zweitens erzeugt es das Erlebnis, in einer Welt zu sein; drittens vermittelt uns das virtuelle Gegenwartsfenster Innerlichkeit in der Zeit, es schenkt uns ein erlebtes Jetzt. Aber die tiefste Form von Innerlichkeit bestand in der Erschaffung einer internen Selbst-Welt-Grenze.
In der Evolution begann dieser Vorgang auf der physikalischen Ebene mit der Entwicklung von Zellmembranen und einem Immunsystem, das eindeutig festlegte, welche Zellen im eigenen Körper als eigene behandelt werden sollten und welche als Eindringlinge. 21 Milliarden Jahre später waren biologische Nervensysteme in der Lage, diese Unterscheidung zwischen Selbst und Außenwelt auf einer höheren Ebene darzustellen – zum Beispiel als Körpergrenzen, die durch ein integriertes, aber immer noch unbewusstes Körperschema umrissen wurden. Das bewusste Erleben erhob diese grundlegende Strategie einer Partitionierung, einer Aufteilung der Wirklichkeit auf eine bis dahin unbekannte Ebene von Komplexität und Intelligenz. Das phänomenale Selbst wurde geboren, und nach und nach trat das bewusste Erleben des Jemand-Seins hervor. Ein Selbstmodell, ein inneres Bild des Organismus als einer Ganzheit, wurde in dasWeltmodell eingebaut, und auf diese Weise begann sich die bewusst erlebte Erste-Person-Perspektive zu entwickeln.
Wie man das Phänomen der Subjektivität wirklich verstehen kann, ist das tiefste Rätsel der Bewusstseinsforschung. Um es zu lösen, benötigen wir ein tieferes Verständnis davon, wie das bewusste Selbst in den Tunnel hineingeboren wurde, wie es der Natur gelang, ein zentriertes Wirklichkeitsmodell zu evolvieren und innere Welten zu erschaffen, die nicht nur erscheinen, sondern die jemandem erscheinen. Wir müssen verstehen, wie der Bewusstseins-Tunnel zu einem Ego-Tunnel wurde.
Kapitel 2 Anhang
DIE EINHEIT DES BEWUSSTSEINS
Ein Gespräch mit Wolf Singer
Wolf Singer ist Professor für Neurophysiologie und leitet die Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Im Jahr 2004 gründete er das Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS), das auf verschiedenen Wissenschaftsgebieten theoretische Grundlagenforschung betreibt und Theoretiker aus den Disziplinen Biologie, Chemie, Neurowissenschaften, Physik und Informatik zusammenbringt. Sein hauptsächliches wissenschaftliches Interesse gilt der Aufklärung jener neuronalen Prozesse, die höheren kognitiven Leistungen wie Sehen, Gedächtnis und Aufmerksamkeit zugrunde liegen. Er bemüht sich ferner darum, die Ergebnisse der Hirnforschung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen; dafür wurde er mit dem Max-Planck-Preis für Öffentlichkeitsarbeit ausgezeichnet.
Singer hat sich besonders aktiv an der philosophischen Debatte über Willensfreiheit beteiligt. Gemeinsam mit Christoph Engel hat er das Buch Better Than Conscious? Decision Making, the Human Mind, and Implications for Institutions (2008) herausgegeben.
Metzinger : Wolf, wie stellt sich nach unserem gegenwärtigen Erkenntnisstand die Beziehung zwischen Bewusstsein und Eigenschaftsbindung dar?
Singer : Eine einzigartige Eigenschaft von Bewusstsein ist seine Kohärenz. Die Bewusstseinsinhalte wandeln sich fortlaufend, im Tempo der erlebten Gegenwart, aber zu jedem Zeitpunkt stehen alle Inhalte des phänomenalen Bewusstseins miteinander in Beziehung, sofern kein pathologischer Zustand vorliegt, der eine Desintegration des bewussten Erlebens verursacht. Dies deutet auf einen engen Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Bindung hin. Es hat den Anschein, als würden nur jene Ergebnisse der zahlreichen Berechnungsprozesse, die zuvor erfolgreich gebunden wurden, gleichzeitig ins Bewusstsein eintreten. Nach dieser Auffassung besteht auch ein enger Zusammenhang zwischen Bewusstsein, Kurzzeitgedächtnis und Aufmerksamkeit. Empirische Befunde lassen vermuten, dass Stimuli nur dann bewusst wahrgenommen werden, wenn man die Aufmerksamkeit darauf richtet, und nur dann erhalten sie Zugang zum Kurzzeitgedächtnis.
Metzinger : Aber wieso gibt es überhaupt ein Bindungsproblem?
Singer : Das Bindungsproblem ist die Folge zweier besonderer Merkmale des Gehirns: Erstens, das Gehirn ist ein hochverteiltes System, in dem eine sehr große Zahl von Operationen parallel ausgeführt wird; zweitens,
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