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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Metzinger
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glauben, ist die soziale Kognition nicht nur eine soziale Metakognition, das heißt das explizite Nachdenken über die mentalen Inhalte eines anderen mit Hilfe abstrakter Repräsentationen. Das sollte ich noch hinzufügen. Wir können sicherlich mit Hilfe unserer komplexen und hochdifferenzierten Mentalisierungsfähigkeit, also unserer Fähigkeit, sich in andere einzudenken, das Verhalten anderer Menschen erklären. Ich will darauf hinaus, dass wir in unseren täglichen sozialen Interaktionen meist gar nicht darauf angewiesen sind. Wir haben einen viel unmittelbareren Zugang zur Erfahrungswelt des anderen. Diese Dimension der sozialen Kognition ist verkörpert, insofern sie zwischen unserem multimodalen Erfahrungswissen unseres eigenen erlebten Körpers und der Art vermittelt, wie wir andere erleben. Aus diesem Grundnenne ich diese Simulation »verkörpert« – nicht nur weil sie im Gehirn realisiert wird, sondern auch weil sie ein bereits im Gehirn vorhandenes Körpermodell nutzt und sich daher auf eine nichtsprachliche Form der Selbstrepräsentation bezieht, die uns auch erlaubt, das zu erleben, was andere erleben.
    Metzinger : Worin genau unterscheidet sich eigentlich die soziale Kognition bei Affen oder Schimpansen von der sozialen Kognition beim Menschen, Vittorio? Was sagen die besten aktuellen Theorien dazu?
    Gallese : Die herkömmliche Auffassung in den Kognitionswissenschaften ist, dass Menschen in der Lage sind, das Verhalten anderer mit Hilfe ihrer eigenen mentalen Zustände – Intentionen, Überzeugungen und Wünsche – zu verstehen, indem sie sich die sogenannte Alltagspsychologie zunutze machen. Die Fähigkeit, anderen Menschen mentale Zustände zuzuschreiben, wird als »Theory of Mind« (Theorie des Geistes) definiert. Es entspricht dem allgemeinen Trend, bei dieser Frage zu betonen, dass nichthumane Primaten – einschließlich Menschenaffen – beim gegenseitigen Verständnis ihres Verhaltens keinen Gebrauch von der Zuschreibung geistiger Zustände in Bezug auf ihre Artgenossen machen.
    Diese Sichtweise legt einen deutlichen Unterschied zwischen allen nichtmenschlichen Arten, die auf die Deutung von Verhalten beschränkt sind, und unserer Spezies nahe, die eine andere Erklärungsebene benutzt – das »Gedankenlesen«, die Deutung der mentalen Zustände von anderen. Nun liegt es jedoch keineswegs auf der Hand, dass Verhaltensdeutung und mentale Deutung zwei eigenständige Bereiche sind. Wie schon gesagt, greifen wir in unseren sozialen Transaktionen nur selten auf explizite Deutungen zurück. Wir verstehen soziale Situationen meistens unmittelbar, unwillkürlich, fast reflexartig. Aus diesem Grund halte ich die Behauptung für absurd, dass soziale Kognition nicht mehr sei als die Fähigkeit, über die tatsächlichen verhaltensbestimmenden Absichten anderer nachzudenken. Noch weniger plausibel ist die Annahme, wir würden die Absichten anderer mit Hilfe einerkognitiven Strategie zu verstehen suchen, die gar nichts mit der Vorhersage der Folgen ihres beobachteten Verhaltens zu tun hat. Vermutlich werden zur Erklärung sozialer Transaktionen allzu viele der sogenannten »propositionalen Einstellungen« der Alltagspsychologie herangezogen – wie etwa Überzeugungen und Wünsche. Wie Jerry Bruner betont: »Wenn die Dinge so sind, wie sie sein sollten, sind die narrativen Strukturen, die Erzählungen der Alltagspsychologie unnötig.« 18
    Außerdem zeigen jüngste Forschungsergebnisse, dass bereits fünfzehn Monate alte Kleinkinder falsche Überzeugungen erkennen. Diese Befunde deuten darauf hin, dass typische Aspekte des Gedankenlesens, wie etwa die Zuschreibung falscher Überzeugungen zu anderen, auf der Grundlage niedrigstufiger Mechanismen, die sich lange vor der voll ausgebildeten Sprachkompetenz entwickeln, erklärt werden können.
    Die übliche kognitionswissenschaftliche Herangehensweise an Phänomene der sozialen Kognition nach dem Prinzip des »Alles oder Nichts« – die Suche nach einem mentalen Rubikon, je breiter, desto besser – ist höchst fragwürdig. Im Bestreben, unsere sozialkognitiven Fähigkeiten zu verstehen, sollten wir nicht vergessen, dass sie das Ergebnis eines langen evolutionären Prozesses sind. Daher ist es möglich, dass scheinbar verschiedene kognitive Strategien auf ähnlichen Funktionsmechanismen basieren, die im Lauf der Evolution immer komplexer geworden sind und »exaptiert« – das heißt für neue Funktionen eingesetzt – wurden. Damit wurden kognitive

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