Der Ego-Tunnel
wirklich unbewusst, und Träume stellen auch unsere Ängste dar – eine Tatsache, die Freud nicht erklären konnte. Was bleibt also, nachdem Solms Verschleierung/Zensur aufgegeben und die Wunscherfüllung nur schwach definiert hat? Nicht viel! Solms greift die Hypothese von der Aktivierungs-Synthese, mit der ich den Traum erkläre, wegen der beobachteten Dissoziationzwischen REM-Schlaf und Traumaktivität an. Wie ich schon mehrfach erwähnt habe, ist die Korrelation zwischen REM-Schlaf und Traumgeschehen eine quantitative, keine qualitative. Das Gehirn geht unmittelbar nach dem Einschlafen vom Wachzustand allmählich in den REM-Schlaf über. Dies bedeutet, dass die Traumwahrscheinlichkeit mit dem einsetzenden Schlaf ansteigt, auch im tiefen Nicht-REM-Schlaf fortbesteht, wenn die Hirnaktivierung noch immer achtzig Prozent des Wachzustands beträgt, und ihren Höchststand im REM-Schlaf erreicht.
Weshalb sage ich dann, dass Freud und Solms zu fünfzig Prozent recht hatten? Weil Träume nicht einfach vollkommener Unsinn sind. Sie stellen eine hervorragende wechselseitige Abfrage zwischen dem Bereich der Emotionen und dem der Kognition dar. Daher lohnt es sich, sie zu protokollieren, zu diskutieren und sogar zu deuten, um herauszufinden, was sie uns über unsere Emotionen sagen und wie sie unsere Gedanken und unser Verhalten beeinflussen. Aber sie tun dies direkt und offen, nicht über die symbolische Transformation verbotener Wünsche aus dem Unbewussten.
Die gute Nachricht ist die, dass man kein Geld ausgeben – ja nicht einmal seine Wohnung verlassen – muss, wenn man anhand von Träumen sein Gefühlsleben erkunden will. Man muss nur aufmerksam sein, ein Tagebuch führen und über die Botschaften aus seinem emotionalen Gehirn, dem limbischen System, nachdenken. Als Wissenschaftler, wie ich es bin, kann man noch viel mehr tun. Man kann Träume und das Träumen dazu benutzen, schrittweise eine neue Theorie des Bewusstseins aufzubauen.
Kapitel 6 Anhang
»THE SHARED MANIFOLD«
(DIE GETEILTE MANNIGFALTIGKEIT)
Ein Gespräch mit Vittorio Gallese
Vittorio Gallese ist Professor für Humanphysiologie am Fachbereich Neurowissenschaften der Universität Parma. Als kognitiver Neurowissenschaftler liegt der Schwerpunkt seiner Forschungsinteressen auf den Beziehungen zwischen dem sensomotorischen System und der Kognition bei menschlichen und nichtmenschlichen Primaten, wobei er sich einer Vielzahl neurophysiologischer und bildgebender Verfahren bedient. Zu seinen bedeutendsten Beiträgen gehören die (gemeinsam mit seinen Kollegen in Parma gemachte) Entdeckung der Spiegelneuronen und die Erarbeitung eines theoretischen Modells für die grundlegenden Aspekte sozialer Kognition. In Zusammenarbeit mit Psychologen, Psycholinguisten und Philosophen entwickelt er einen interdisziplinären Ansatz für das Verständnis von Intersubjektivität und sozialer Kognition. Im Jahr 2002 bekleidete er die George-Miller-Gastprofessur an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Im Jahr 2007 wurde er für die Entdeckung der Spiegelneuronen mit dem Grawemeyer Award for Psychology ausgezeichnet. Er hat über siebzig Beiträge in internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht und ist (mit Maxim I. Stamenov) Herausgeber des Buchs Mirror Neurons and the Evolution of Brain and Language (2002).
Metzinger : Vittorio, was genau verstehen Sie unter der »Shared-Manifold«-Hypothese? Was ist eine »Shared Manifold« (wörtl.: »geteilte Mannigfaltigkeit«)?
Gallese : Ich bin von folgender Frage ausgegangen: Wie können wir die Leichtigkeit erklären, mit der wir normalerweise verstehen, worum es geht, wenn wir mit anderen Menschen interagieren? Ich habe diesen Begriff verwendet, um zu beschreiben, was geschieht, wenn wir die Handlungen anderer beobachten oder ihr äußeres Verhalten, das die von ihnen erlebten Empfindungen und Emotionen ausdrückt. Er bezeichnet im Grunde unsere Fähigkeit, zur Erlebniswelt des anderen direkten und impliziten Zugang zu gewinnen. Meines Erachtens sollte der Begriff der Empathie auf all die verschiedenen Aspekte des Ausdrucksverhaltens erweitert werden, die uns erlauben, eine bedeutungsvolle Beziehung zu anderen herzustellen. Dieser erweiterte Empathiebegriff wird von dem Terminus »geteilte Mannigfaltigkeit« abgedeckt. Er eröffnet die Möglichkeit, wichtige Aspekte und mögliche Beschreibungsebenen der Intersubjektivität auf eine einheitliche Weise darzustellen. Ich wollte den Ausdruck »Empathie«
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