Der Ego-Tunnel
kulturellen Übergangs. Und tatsächlich gibt es eine Fülle von Belegen dafür, dass wir unsere Spiegelneuronen benutzen, wenn wir einfache motorische Handlungen nachahmen, wie etwa das Heben eines Fingers oder komplexe motorische Handlungsfolgen wie etwa Gitarrespielen lernen. Doch anstatt eine Grenze zu ziehen zwischen einer Spezies wie uns, dieüber uneingeschränkte Nachahmungsfähigkeit verfügt, und anderen Spezies, bei denen diese Fähigkeiten allenfalls ansatzweise vorhanden sind – wir haben es hier wieder einmal mit einer dieser anthropozentrischen Dichotomien zu tun, die viele meiner Kollegen so ansprechend finden –, sollten wir versuchen zu verstehen, weshalb Nachahmungsfähigkeiten für die kulturelle Evolution unserer Art so wichtig sind. Und um diese Frage zu beantworten, müssen wir das Problem der Nachahmung in den größeren Kontext unserer besonderen sozialen Kognition stellen, denn bei uns ist der Zeitraum der elterlichen Fürsorge viel länger als bei allen anderen Spezies. Es besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der längeren Abhängigkeit von Kleinkindern von ihren Eltern und den Lernvorgängen, die diese Abhängigkeit fördert. Je länger die Phase der kleinkindlichen Abhängigkeit, desto größer die Chancen, komplexe emotionale und kognitive Kommunikationsstrategien zu entwickeln. Verbesserte Kommunikation wiederum fördert die kulturelle Evolution. Angesichts der zentralen Rolle, die Spiegelneuronen offenbar beim Aufbau sinnstiftender Bindungen zwischen den Individuen spielen, erscheint ein Zusammenhang mit der kulturellen Evolution sehr plausibel.
Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte war die Kultur unserer Spezies eine orale Kultur, in der die Weitergabe von Wissen von einer Generation an die nächste auf den direkten persönlichen Kontakt zwischen dem Übermittler kultureller Inhalte und dem Empfänger der kulturellen Überlieferung angewiesen war. Wie Wissenschaftler wie [Walter J.] Ong und [Eric A.] Havelock gezeigt haben, musste sich die kulturelle Überlieferung über Jahrtausende hinweg auf denselben kognitiven Apparat stützen, den wir noch immer in unseren zwischenmenschlichen Transaktionen nutzen – nämlich auf unsere Fähigkeit, uns mit anderen zu identifizieren und uns in sie einzufühlen. Auch in diesem Punkt glaube ich, dass Spiegelneuronen offenbar eine zentrale Rolle spielen, wenn wir die kulturelle Evolution aus dieser besonderen Perspektive betrachten. Gegenwärtig erleben wir einen kulturellen Paradigmenwechsel. Die Auswirkungen neuerTechnologien wie Kino, Fernsehen und jüngst des Internets mit seiner massiven Einführung der Multimedialität verändern dramatisch die Art und Weise, wie wir Wissen kommunizieren. Der vermittelte, objektive Status der Kultur, wie er von schriftlichen Texten wie etwa in Büchern transportiert wird, wird nach und nach durch einen direkteren Zugang zu denselben Inhalten mit Hilfe der neuen Medien kultureller Aneignung ergänzt werden. Diese Medienrevolution wird vermutlich kognitive Veränderungen mit sich bringen, und ich vermute, dass die Spiegelneuronen abermals daran beteiligt sein werden.
Metzinger : Was sind Ihres Erachtens die brennendsten und drängendsten Fragen in der auf soziale Phänomene gerichteten kognitiven Neurowissenschaft, und in welche Richtung bewegt sich das Fach?
Gallese : Zuerst würde ich gern auf einen methodischen Punkt hinweisen. Meiner Meinung nach sollten wir definitiv versuchen, uns stärker auf die Eigenart der Versuchspersonen unserer Untersuchungen zu konzentrieren. Das meiste, was wir über die neuronalen Aspekte sozialer Kognition wissen – mit wenigen Ausnahmen, die die Erforschung der Sprachfähigkeit betreffen –, stammt aus bildgebenden Verfahren und allein aus Studien mit Psychologie-Studenten in der westlichen Welt! Selbst mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Technologien könnten wir weit mehr erreichen. Es ist eine offene Frage, ob kognitive Merkmale und die neuronalen Mechanismen, die ihnen zugrunde liegen, universell sind oder das Produkt eines besonderen sozialen Umfelds und kultureller Bildung – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir eine Ethno-Neurowissenschaft.
Zweitens, selbst innerhalb der durchschnittlichen Stichprobe von Versuchspersonen, die normalerweise von auf dem Feld der sozialen Kognition arbeitenden Neurowissenschaftlern untersucht werden, wissen wir nicht – oder bestenfalls nur
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