Der Ego-Tunnel
Fähigkeiten aufrechterhalten, die unter dem Druck, der von veränderten sozialen und/oder Umweltbedingungen ausgeübt wird, neu entstanden sind. Bevor wir irgendeine verbindliche Schlussfolgerung über die Fähigkeiten zum Gedankenlesen bei nichtmenschlichen Spezies ziehen, sollten methodologische Probleme im Zusammenhang mit artspezifischen spontanen Fähigkeiten und Lebensräumen einer sorgfältigen Prüfung unterzogen werden.
Eine erfolgversprechende alternative Strategie, die ich uneingeschränkt unterstütze, besteht darin, das Problem der Erforschungder neuronalen Grundlagen sozialer Kognition unter einer evolutionären Perspektive neu zu formulieren. Die Evolution dieses kognitiven Merkmals hängt anscheinend mit der Notwendigkeit der Bewältigung sozialer Komplexitäten zusammen, die auftraten, als in Gruppen lebende Individuen um knappe und räumlich ungleichmäßig verteilte Ressourcen konkurrieren mussten.
Die kognitive Neurowissenschaft hat begonnen, sowohl bei Affen als auch beim Menschen die neuronalen Mechanismen aufzuklären, die der Antizipation und dem Verstehen der Handlungen anderer und den diese antreibenden Grundintentionen zugrunde liegen – das Spiegelneuronensystem für Handlungen. Die Ergebnisse dieser laufenden Forschungen können uns Aufschlüsse über die Evolution der sozialen Kognition liefern. Die empirischen Daten über Spiegelneuronen bei Affen und über spiegelneuronale Schaltkreise im menschlichen Gehirn deuten darauf hin, dass einige der typisch menschlichen komplexen Fähigkeiten zum Gedankenlesen – wie etwa die Zuschreibung von Intentionen zu anderen – das Resultat eines fortlaufenden evolutionären Prozesses sein könnten, dessen Vorstufen sich bis zum System der wechselseitigen Abbildung durch das Spiegelsystem beim Makaken zurückverfolgen lassen.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Was ist das Besondere beim Menschen? Zweifellos spielt die Sprache eine Schlüsselrolle. Aber in einem gewissen Sinne geht diese Antwort an der Frage vorbei, denn wir müssen erklären, wieso wir Sprache haben und andere Tiere nicht. Gegenwärtig können wir nur Hypothesen über die relevanten neuronalen Mechanismen formulieren, die den funktional noch immer weitgehend unverstandenen Fähigkeiten zum Gedankenlesen beim Menschen zugrunde liegen.
Ein charakteristisches Merkmal unserer Fähigkeit zum Gedankenlesen ist unser Vermögen, potenziell unendliche Ordnungsstufen der Intentionalität aufzubauen: »Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß …« und so weiter. Ein wichtiger Unterschied zwischen Menschen und Affen könnte der höhere Grad der Rekursion sein, den das Spiegelneuronensystem – neben anderen neuronalenSystemen – für Handlungen in unserer Spezies erreicht. Ein ähnlicher Vorschlag wurde jüngst in Bezug auf das Sprachvermögen gemacht, eine weitere menschliche Fähigkeit, die sich durch Rekursion und Generativität auszeichnet (also die Möglichkeit, aus einem endlichen Zeichenvorrat eine unendliche Menge an Kombinationen zu erzeugen). Unsere Spezies ist in der Lage, hierarchisch komplexe Satzstrukturgrammatiken zu beherrschen, während nichtmenschliche Primaten auf den Gebrauch viel einfacherer Grammatiken mit endlich vielen Zuständen beschränkt sind. Ein quantitativer Unterschied in der »Rechnerleistung« und dem Grad der Rekursion könnte einen qualitativen Sprung in der sozialen Kognition herbeiführen.
Metzinger : Wenn Sie über die Rolle von Spiegelneuronen beim Übergang von der biologischen zur kulturellen Evolution spekulieren sollten, wie sähe diese Spekulation aus?
Gallese : Eine Möglichkeit besteht darin, dass Spiegelneuronen und die auf ihnen basierenden verkörperten Simulationsmechanismen unter Umständen eine entscheidende Voraussetzung für die Fähigkeit sind, zu lernen, wie man die kognitiven Instrumente der Alltagspsychologie benutzt. Dies geschieht in der Regel, wenn Kinder wiederholt Geschichten erzählt bekommen. Zweifellos spielt die verkörperte Simulation bei der Sprachverarbeitung eine Rolle. Doch der Aspekt der menschlichen Kultur, der wahrscheinlich eher von Spiegelneuronen profitiert, ist der Bereich der Imitation, der Bereich unserer unglaublichen Fähigkeiten zur Nachahmung. Wenn es stimmt, dass die menschliche Kultur im Grunde eine mimetische Kultur ist, dann sind Spiegelneuronen, die stark an Nachahmung und Lernen durch Nachahmung beteiligt sind, zweifellos eine wichtige und grundlegende Komponente dieses entscheidenden
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