Der Ego-Tunnel
ansatzweise –, in welchem Ausmaß die Ergebnisse mit spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen, Geschlechtszugehörigkeit, Fachkompetenz undÄhnlichem korrelieren. Kurz, wir sollten von der Beschreibung eines unrealistischen »durchschnittlichen sozialen Gehirns« auf eine viel feinkörnigere Beschreibung übergehen.
Ein dritter Fragenkomplex, dessen eingehende Erforschung ich mir in der nahen Zukunft wünschen würde, betrifft die Rolle, die verkörperte Mechanismen bei semantischen und syntaktischen Aspekten der Sprache spielen. Ich möchte dies ganz deutlich sagen. Auch wenn ich einen erheblichen Teil meiner wissenschaftlichen Laufbahn mit der Erforschung vorsprachlicher Mechanismen der sozialen Kognition verbracht habe, glaube ich nicht, dass man der Sprache aus dem Weg gehen kann, wenn es letztlich um ein Verstehen dessen geht, was soziale Kognition eigentlich ist. Unsere gesamte Alltagspsychologie ist sprachbasiert. Wie lässt sich dies mit dem Versuch in Einklang bringen, die soziale Kognition durch einen embodied approach zu erforschen, also anhand eines Ansatzes, in dem Verkörperung im oben genannten Sinne eine zentrale Rolle spielt? Das ist meines Erachtens eine brennende Frage.
Ein vierter wichtiger Punkt betrifft die phänomenologischen Aspekte der sozialen Kognition. Ich denke, wir sollten versuchen, Studien zu konzipieren, in denen sich ein Zusammenhang herstellen lässt zwischen besonderen Mustern der Hirnaktivierung und spezifischen qualitativen subjektiven Erlebnisformen. Heute sind Einzelfallstudien mit hochauflösenden bildgebenden Technologien möglich. Ich bin mir voll und ganz der Tatsache bewusst, dass es eine heikle Angelegenheit ist, subjektive Zustände zu erforschen, und die empirische Wissenschaft hat bislang aus vielen guten Gründen versucht, sich davon fernzuhalten. Aber grundsätzlich sollte es möglich sein, auf sorgfältige Weise geeignete und gut kontrollierte Versuchsaufbauten zu konzipieren, um die Grenzen zu subjektiven phänomenalen Zuständen zu durchbrechen.
Metzinger : Vittorio, Sie haben mich mehrfach mit drängenden Fragen über Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty und Edith Stein in Bedrängnis gebracht. Weshalb interessieren Sie sich so für Philosophie,und was für eine Philosophie wünschen Sie sich für die Zukunft? Welche Beiträge erwarten Sie von den Geisteswissenschaften, welche fänden Sie wirklich relevant?
Gallese : Die Naturwissenschaftler, die glauben, ihre Disziplin werde nach und nach alle philosophischen Probleme beseitigen, machen sich einfach etwas vor. Die Wissenschaft kann einen Beitrag zur Beseitigung falscher philosophischer Probleme leisten. Aber das ist etwas ganz anderes.
Wenn wir als Wissenschaftler verstehen wollen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, dann brauchen wir die Philosophie, um zu klären, welche Fragen zur Debatte stehen, welche Probleme gelöst werden müssen, was erkenntnistheoretisch stimmig ist und was nicht. Die kognitive Neurowissenschaft und die Philosophie des Geistes befassen sich mit denselben Problemen, benutzen jedoch unterschiedliche Herangehensweisen und verschiedene Beschreibungsebenen. Wir verwenden sehr oft verschiedene Wörter für die gleichen Sachverhalte. Alle kognitiven Neurowissenschaftler sollten meiner Meinung nach Kurse in Philosophie belegen. In ähnlicher Weise sollten Philosophen – zumindest Philosophen des Geistes – viel mehr über das Gehirn und seine Funktionsweise lernen. Wir müssen viel mehr miteinander sprechen, als wir es heute tun. Wie kann man die soziale Kognition überhaupt erforschen, ohne zu wissen, was eine Intention ist, oder ohne den Begriff einer Intentionalität zweiter Ordnung zu verstehen? Und umgekehrt: Wie kann man an einer philosophischen Theorie der Kognition festhalten, wenn sie offensichtlich von den verfügbaren empirischen Daten widerlegt wird? Ich glaube, dass die Beschäftigung mit Philosophie noch aus einem anderen Grund hilfreich sein kann. Unsere wissenschaftliche Draufgängerei verführt uns manchmal dazu, zu glauben, wir hätten als Erste über etwas nachgedacht. Meistens ist das nicht der Fall!
Wie schon gesagt, sollte die Philosophie die Ergebnisse der kognitiven Neurowissenschaft sorgfältiger zur Kenntnis nehmen. Aber die Dinge sind in raschem Wandel begriffen. Die Situation ist heute viel besser als vor zehn Jahren. Es gibt immer mehr Chancenfür einen multidisziplinären Austausch zwischen unseren Fachgebieten. Einer meiner Doktoranden, der gegenwärtig
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