Der Ehrengast
wurde, öffnete er sich ihm, wurde er ihm zu einer Quelle lebendigster Gefühle – es war, als verkörperte er in Gestalt, Gefühl und Farbe das, was in ihm erregt war.
Sie zog unmerklich mit ihren alltäglichen Verrichtungen in das leere Haus; flickte die zerknitterten Kleider der Kinder, saß auf dem Läufer vor dem Feuer, schrieb mit ihrer großen Kalligraphenschrift Briefe, machte sich an Sonntagnachmittagen, wenn sie sich in seinem Badezimmer einschloß, das Haar zurecht. Sie brachte ihre Nähmaschine herüber und fing an, die Vorhänge umzunähen. »Wenn deine Frau kommt, dreht sie beim Anblick dieser schrecklichen Dinger noch durch.«
Olivia hatte in ihrem Brief geschrieben, sie verspreche nun hoch und heilig, bis zum November zu kommen – es war der verschämte, schuldbewußte Brief eines verwöhnten kleinen Mädchens, das weiß, daß es seinen Willen, alles so einzurichten, wie es sich das vorstellt, bis zur Neige strapaziert hat. Für Bray war der November noch weit. Sein ganzes Zeitgefühl schien gedehnt oder, richtiger, wirklichkeitsfern geworden zu sein. Ob nächste Woche oder November – beides entzog sich gleichermaßen seiner Vorstellungskraft. Er hatte keine Ahnung, wo er sich, abgesehen vom jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt, aufhalten würde. Er wußte nicht, was er damit meinte:
wo er sein würde.
Die Kluft zwischenseinen Gefühlen und seinen Handlungen wurde größer, und in diesem Abgrund – der keine Leere war, sondern ein neuer, unerwarteter, noch nie betretener, nie bedachter Seinszustand – lag die Erklärung. Er saß mit dem Mädchen im selben Zimmer und schrieb an Olivia, zutiefst empört, daß es im November nun aber tatsächlich höchste Zeit sei, daß es gleichzeitig aber bedauerlich sei, daß sie den Winter versäume, der in Gala – wie sie vielleicht vergessen habe – so wunderschön war. Nichts stand in diesem Brief, das ihn selbst anging. Die Intimität, die in ihm zum Ausdruck kam, war oberflächlich, äußerlich; die dünnen Blätter lagen wie eine abgestreifte Schlangenhaut da, die bis ins kleinste die äußere Form eines Körpers simulierte, der nicht vorhanden war. Er faltete den Brief und steckte ihn in den Umschlag.
Rebecca erledigte gerade irgendwelche Schreibarbeiten für ihn; das war unumgänglich. Sie blickte auf, formte mit ihrem Mund ein Wort; wandte sich wieder ihrer Arbeit zu und lächelte ein wenig. Er sagte zu ihr: »Edward Shinza war nicht da, als ich zu den Bashi fuhr.«
Sie erweckte häufig den Eindruck, sie mache sich Gedanken und habe Angst, sie könnte ihn mißverstehen, wenn er sie auf diese Weise anredete – selbst im Bett, in der Dunkelheit, empfand er das.
»Er war über die Grenze. Dort, in den Bashi, ist es nicht allzu schwer, die Nordwestgrenze in der einen oder anderen Richtung zu überschreiten. Meilenweit nichts – die Flats gehen in eine Art Halbwüste über, und es gibt nur diesen einen Grenzposten am Tanga-Fluß. Seine junge Frau gab mir mehr oder weniger zu verstehen, daß er das früher auch schon getan hat. – Mach nicht so ein besorgtes Gesicht!« Ihr Gesicht war in die Breite gegangen und war glatt vom Ausdruck der Anspannung.
»Ich frag mich, ob es nicht Somshetsi ist, den er da aufsucht. Erinnerst du dich an die beiden? – Mweta hat sie vor ein paar Monaten des Landes verwiesen, weil der alte Präsident Bete ihn beschuldigte, er lasse es zu, daß sie auf unserer Seite der Westgrenze eine Guerilla-Basis aufbauen.«
»Und wenn er sie nun tatsächlich aufsucht …?«
Er holte nachdenklich Luft; um die Mitte war er so schlank wie mit fünfundzwanzig, aber wie viele Männer seiner Körpergröße hatte er einen Spitzbauch entwickelt – er ließ sich in den sich ausdehnenden Brustkorb einziehen, aber die Tatsache, daß er über seinen Gürtel vorstand, wenn er ihn vergaß, ließ sich nicht verheimlichen. Er schob den Gürtel nach oben. »Da steht etwas in einer der englischen Zeitungen. Somshetsi und Nyanza haben sich offenbar getrennt. Jetzt ist Somshetsi der Mann. Er hat Nyanza öffentlich bezichtigt, er habe Gelder verschwendet und Gelegenheiten nur mangelhaft genutzt, die für die Befreiungsabsichten und so weiter förderlich gewesen wären. Was auch immer dahintersteckt, sofern Somshetsi hier irgendeine Chance auf einen Wechsel sähe, der seiner Truppe die Rückkehr und die Etablierung einer Basis ermöglichen könnte – weshalb sollte er daran dann nicht höchst interessiert sein? Dort, wo sie sich jetzt aufhalten, liegt
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