Der Ehrengast
jüdisch-intellektuell, obwohl er sich selbst kaum als Jude sah. Hätte er in Osteuropa gelebt, dann wäre der alte Herr einer jener heiligen Talmudschüler gewesen, die sich keine Gedanken ums Geldverdienen machen – Teil der rabbinischen Tradition, die er für eine viel schlimmere Art von Ghetto hielt als die echten.«
Bray erinnerte sich daran, daß die Tochter ihren Namen von diesem zurückgezogenen und unnahbaren Europäer bekommen hatte. Um Hjalmars Gedanken vom Sohn abzubringen, lenkte er seine Aufmerksamkeit auf das Mädchen, das ihm viel näherstand. »Und Emmanuelle? Wie steht es um ihre musikalische Karriere beim Radio?«
»Sie hat regelmäßig jeden Donnerstag ihre Sendung.«
Hjalmar blickte ein wenig fassungslos drein; das wußte doch sicher jeder. Aber Bray hörte nie etwas anderes als die Nachrichten und wurde sich seiner Unterlassungssünde gar nicht bewußt.
»Oh, prima.«
Hjalmar wies seinen eigenen leichtfertigen Stolz auf sie als etwas Verachtungswürdiges zurück. »Sie sollte in Kopenhagen ans Konservatorium gehen. In Paris. Kleine, aus Stöcken gemachte Flöten blasen und über Blechstückchen auf einer Kalabasse dahinpfeifen. Ah, ich will gar nicht darüber reden. Und dazukommt jetzt noch Margot mit ihren Vorstellungen« – er holte tief Luft und hielt sie an; dann ließ er sie entmutigt wieder aus – »Margot nimmt sie jetzt an die Hand und bringt sie zum Arzt, damit sie gewappnet ist. Man nehme eine Pille und dann nehme man einen Mann – so als wär’s ein Aspirin.« Er wandte sich an die abwesende Margot. »Wer bist du denn, daß du für sie die Entscheidung triffst, ob sie mit jedem Mann schläft, der ihr über den Weg läuft? Sie hat nicht darum gebeten;
du
triffst die Entscheidung. Du bestimmst die Art und Weise, wie Mädchen heutzutage leben.« Er wandte sich von sich selbst ab. Aber die Anklagen folgten ihm. »Und ich bin derjenige, der keinen Draht zur Realität hat. Ich bin derjenige, der in einer Traumwelt lebt. Ist ja klar. Jeder Mann, der im Busch daheim eine Frau und fünf oder sechs Kinder hat, ist recht für sie, da braucht man sich überhaupt keine Sorgen zu machen – Emmanuelle ist ja gewappnet. Wogegen? Kannst du mir das verraten? Sind denn sämtlicher Kummer und sämtliche Sorgen schon aus dem Weg geräumt, wenn eine Frau nur weiß, daß sie nicht riskiert, ein Kind zu kriegen?«
»Wir tun, was wir können – das ist alles«, sagte Bray.
»Ihre Töchter sind verheiratet.«
»Ja, das ist aber auch keine Immunitätsgarantie.«
Es gab eine Entspannungspause; Hjalmar zog am Rand seines wohlgeformten Ohrs. »Wissen Sie, oft hätte ich Lust gehabt, auf ein paar Tage zu Ihnen hinauf zu kommen – nur kurz einmal, zur Abwechslung, um mir was anzusehen. Ich kenne das Land so gut wie überhaupt noch nicht.«
»Nun, warum tun Sie’s dann nicht.«
»Ich spiele bloß so mit dem Gedanken.« Er zuckte die Achseln. »In diesem Geschäft kommt man nicht einmal für einen halben Tag weg. Es wird ständig noch unmöglicher, Personal zu kriegen. Margot mußte gerade erst wieder in die Küche – bei einem Kampf bekam der Koch eine Stichwunde. Nun, was bleibt mir schon übrig? Man kann nicht einfach aus dem Nichts heraus Köche herzaubern. Ich hab zu ihr gesagt, wir sollten uns jemand ausEuropa suchen, einen Einwanderer. In Italien oder in Deutschland inserieren.«
Emmanuelle erschien auf der Bildfläche, und ihr Gesichtsausdruck nahm augenblicklich zu Protokoll: wieder die gleiche Leier. Sie streckte ihre schlanke, fahle Hand aus und schüttelte sie wie ein Tamburin. »Schlüssel, die Schlüssel, bitte. – Hallo, Colonel Bray, ich wußte gar nicht, daß Sie da sind.«
»Leider hat er uns diesmal eine Abfuhr erteilt, er logiert bei Mr. Dando. Man hat uns verlassen.«
Was sagte man zu einem Mädchen in Emmanuelles Alter? Nicht, du bist aber gewachsen … obwohl es ihm so vorkam. Sie wirkte größer als beim letzten Mal und sogar auf noch elegantere Art schlank. Ein paar Augenblicke lang plauderten sie miteinander; aber sie pochte auf einen gleichberechtigten Erwachsenenstatus, auf den sie sich – natürlich! – beim letzten Mal eingelassen hatten. Er hatte das Gespräch im Garten vergessen. »Kommen Sie und trinken Sie was mit uns«, sagte sie und ließ die Einladung offen, so als wüßte er, welche Gesellschaft sie kurzfristig verlassen hatte. Sie hatte sich, die Beine gespreizt, vor ihrem Vater aufgepflanzt und schüttelte abermals die Hand, weil sie die Schlüssel
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