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Der Ehrengast

Der Ehrengast

Titel: Der Ehrengast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Gordimer
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auf und balancierte die Aktenmappe über dem Korb neben ihm, damit die Sonne nicht auf sein Gesicht fiel.
    Und mehr Zeit verstrich. Sie saß weiter auf der Straße da. Ihr Hemd war naß vom Schweiß, und sie konnte ihn riechen. Manchmal öffnete sie ihren Mund und keuchte ein wenig; bis sie das Geräusch wahrnahm und wieder aufhörte. Sie begann, etwas zu empfinden. Sie wußte nicht, was es war, aber es war eine Art dunkler, physischer Ahnung. Und dann dachte sie, bei völlig klarem Bewußtsein, daß die Flasche noch immer im Korb war, stand entschlossen auf, um sie zu holen, und schüttete den übriggebliebenen Kaffee in die Plastiktasse. Als sie die Flüssigkeit sah, kehrte alles in einer Welle zurück, in die Drüsen ihres Mundes, in ihre Nerven, in ihre Sinne, in ihr Fleisch und in die Knochen – sie hatte Durst. Sie trank es in einem Zug herunter. Und dann weinte sie zum ersten Mal. Sie hatte begonnen weiterzuleben. Trostlosigkeit schlug zusammen mit der Sonne rot auf ihre Lider, und die Tränen strömten aus Augen und Nase und über ihre erdverkrusteten Hände.
    Ein paar Leute kamen die Straße herunter. Ein alter Mann mit Sicherheitsnadeln in den Ohrläppchen und einem Lendentuch unter einem alten Jackett blieb stehen und wiederholte immer wieder die gleiche Halbsilbe. Kleine Kinder waren da und sahenzu, und keiner schickte sie weg. Alles, was sie unter den Augen des alten Mannes tun konnte, war den Kopf zu schütteln, immer wieder, wieder, wieder, wieder, wieder über das, was sie beide sahen. Den Frauen entrang sich ein tiefes Seufzen. Und inmitten von ihnen lag Bray. Sie brachten eine alte, graue Decke von jener Art, wie sie sie ihr ganzes Leben lang vor ihren Hütten hatte trocknen sehen, und eine alte Tür, und sie hoben ihn auf und trugen ihn fort. Sie schienen ihn zu kennen; er gehörte zu ihnen. Der alte Mann mit den Sicherheitsnadeln sagte zu ihr – wie Schuppen fiel es ihm von den Augen: »Es ist der Colonel! Es ist der Colonel!«
    Sie kannte ihn nicht mehr. Sie hatte ihn verlassen. Sie ging die Straße zwischen den baumwollbedeckten, großen, weichen, hängenden Brüsten zweier Frauen entlang – sie lebte.
    Sie brachten sie zu einem geschlossenen und verlassenen Hotel. Das Gebäude war mit Brettern vernagelt, und im Freien gab es eine Art Riesenvogelhaus ohne Vögel, dessen Drahttüren offenstanden, und übereinandergestapelt lagen da aufgeplatzte Matratzen und Haufen von Unrat herum. Sie brachten sie zu ihrer eigenen Behausung, zu einer ihrer Lehmhütten, und legten ihn im kühlen Halbdunkel auf ein Eisenbett. Es war das Bett des alten Mannes. Es hatte einen Kissenüberzug, der mit gelben Kreuzen, roten Vögeln mit blauen Augen und blauen Blumen mit roten Blättern bestickt war. Die Frauen setzten sich um ihn und klatschten lautlos in ihre Hände und gaben ständig eine Art archaischen Stöhnens von sich, vielleicht ein Gebet, vielleicht bloß irgendein anderer menschlicher Laut, den sie noch nie davor gehört hatte. Sie lehnte ihren Kopf gegen eine der großen Brüste, auf Stoff, der nach Holzrauch und Schnupftabak roch. Der District Officer aus dem
boma
von Matoko kam und brachte sie in seinem Landrover weg, und seine kleine Frau, die Edna Tlume sehr ähnlich sah, schien irgendwie Angst vor ihr zu haben und steckte sie in ein Bett, bei dem es sich offensichtlich um das Ehebett handelte. Ein weißer Arzt im Gewand eines Priesters kam und gab ihr eine Spritze; sie legten sie schlafen, weilsie nicht tot war. Sie verstand; was sonst sollten sie schon mit ihr machen? Sie schlief die ganze Nacht, und am Morgen fand sie sich in einem großen Bett wieder – nach all den Nächten in einem schmalen Bett.
    Neil und Vivien Bayley erschienen, um sie in die Hauptstadt mitzunehmen. Sie trug eines der Kleider der Frau des D. O. und hatte nichts außer dem Picknick-Korb und der Aktenmappe.
    Im Haus der Bayleys stürzten sich sogleich die Kinder auf sie, zogen an ihr, plapperten, fragten, wo Clive und Alan und Suzi seien. Vivien verwendete die Erwachsenenformel: »Ihr dürft Rebecca nicht anstrengen, sie ist sehr, sehr müde«, aber für sie war sie die ihnen vertraute Rebecca, in deren Wagen sie immer übereinandergeschichtet Vergnügungen und Abenteuern entgegengefahren waren. Sämtliche Kinder Viviens durchliefen ein Stadium, in dem sie ihrer Mutter gegenüber heftige Aggressionen entwickelten; Eliza schrie: »So eine Gemeinheit! Rebecca ist netter als du!« Eine Szene schwappte durch das Haus,

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