Der Ehrengast
beinahe Winter – du hast keine warmen Kleider.« Sie besaß jetzt die zwei Baumwollkleider, die sie beide geschneidert hatten, die alten Jeans und ihr Hemd (gewaschen, keine Spur mehr von der roten Erde), den Picknick-Korb und Brays Aktenmappe. Neil hatte sie bitten müssen, daß er nachsehen dürfe, ob Brays Paß und andere Papiere darin waren, aber er hatte sie ihr zurückgegeben.
Neil kam ins Schlafzimmer, wo sie und Vivien mit dem Mantel standen. »Und was ist mit der Flugkarte?«
»Ich werd mir das Geld von Loulou borgen.«
Neil nickte: Loulou war der Partner ihres Mannes, die Frage des Geldes würde sich rasch erledigen lassen. Unvermittelt sagte sie: »Er wird sich freuen, daß ich in Schweizer Franken zahle.«
Als Neil aus dem Zimmer gegangen war, sagte sie zu Vivien: »Ich werde nie mehr mit Gordon zusammenleben«, und Vivien stand da und sah den Mantel an, ohne ihn zu sehen, und preßte ihren Daumennagel zwischen ihre Schneidezähne.
Sie gaben ihr einen ihrer Koffer. Als sie gepackt hatte, war er noch immer halb leer. Bis zu dem Augenblick, in dem sie abfuhr, schienen beide zu glauben, sie müßten sie zurückhalten, und waren doch unfähig, ihr einen Grund zu nennen, weshalb sie nicht fahren sollte. »Ich glaube nicht, daß er je über die Grenze kommen wird«, versuchte es Neil. »Gerade er. Wahrscheinlich weiß man, daß er seinerzeit in Katanga mit Waffen gehandelt hat.«
»Er wird schon durchkommen. Gordon sagt immer, Loulou schafft alles.«
Er fuhr einen Tag und eine Nacht und machte nur zwei- oder dreimal halt, um kurz zu schlafen. Es war gefährlich, so schnell und ohne Unterbrechung so lange zu fahren, aber sie wußte, daßnichts passieren würde. Sie entdeckte, daß es nicht darum ging, ob es einem egal war, ob man lebte oder starb, sondern daß man einfach wußte, wann man nicht sterben konnte. Man hatte überlebt. Er hatte nur eines der Mädchen mitgenommen, und es war genug Platz da, um sich auszustrecken und zu schlafen. Das Mädchen und sie hatten keine gemeinsame Sprache, und ihre Verständigung bestand aus einem gelegentlichen Lächeln und dem stummen Übereinkommen, wann sie anhalten mußten, um in den Büschen zu verschwinden. Die Hitze war sehr groß, und zusammen mit der Geschwindigkeit machte sie einen benommen: Wald, Savanne, Gesträuch, ein Wechsel in der Bewegung, wenn man eine Paßstraße hinabfuhr. Loulou kam mit den Beamten am Grenzposten gut zurecht und »vergaß« zwei Flaschen Whisky, die er neben der Wasser schwitzenden Klimaanlage abgestellt hatte. Auf der anderen Seite der Grenze war es Nacht, plötzliche Ausbrüche gackernder Musik, als er im Autoradio einen Sender suchte, unruhiger Schlaf, die unklare Masse seines Körpers in dem Pullover vorn, die Insektenwolken in den Scheinwerferstrahlen, und die Dämmerung, die wie ein Duft von Frische vor dem Tageslicht hereinströmte. Sie befanden sich jetzt in einer wüstenartigen Gegend, harte, gelbe Erde, die zu trichterförmigen Ameisenhügeln von fünf Metern Höhe aufgehäuft war, schlampige Dornenbüsche, die von zerfetzten Spinnweben überzogen waren, riesige Baobabbäume. Sie passierten Holzbrücken über ausgetrockneten Flußbetten. Gegen Mittag hörte alles natürliche Wachstum auf, und nun gab es nichts mehr außer den harten gelben Riffen, außer Zügen von pollenfarbenen Dünen, mehr zerfurchte und nackte Felsen, und dann, hinter dem Gelb, ein Blau, das gleichermaßen strahlend wie hart war – das Meer. Durch die verdreckten Siedlungen, die Eskorte aus Fahrrädern und Hühnern und überbesetzten Bussen und Lastwagen, die das erste Lebenszeichen jeder Kolonialstadt darstellen, kamen sie zu Fabriken mit portugiesischen Namen, zu Felshängen, die über und über von den rosa und weißen Wänden und ziegelgedeckten Dächern bedeckt waren, den dunklen Bäumen und denfarbenprächtigen Ranken der Wunderblume an den Häusern der Weißen, und darunter die blassen Kuben und Rechtecke des Handelsviertels hinter einem geschwungenen Gesims an der Straße, und dann der Hafenwirrwarr aus Schiffen und Kränen. Loulou brachte sie zum Lisboa-Hotel (»Ihnen gefallen – zwei Bar für Cocktail«) und gab ihr den Gegenwert von fünfzig Pfund, teils in Dollars, teils in Sterling, zusätzlich zu dem Betrag in Escudos, den sie für ihren Flug nach Europa benötigte. Auf einem ihrer Ausflüge in die Büsche hatte das Mädchen Rebecca zwei Banknotenbündel gezeigt, die sie in Kattunbeuteln unter ihrem
pagne
an den Hüften bei sich
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