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Der Ehrengast

Der Ehrengast

Titel: Der Ehrengast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Gordimer
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selbst ausgearbeitetes Programmin Angriff. In langen Gesprächen mit Malemba war ihm die Sinnlosigkeit klargeworden, die bestehenden Schulen und die ihm zugänglichen Zahlen über Kinder im Schulalter als Ausgangsbasis für einen Bericht oder eine Empfehlung zu nehmen. Die Provinz war riesengroß; ein ganzer europäischer Staat hätte in ihr Platz gehabt. Die letzte Volkszählung lag sieben Jahre zurück und hatte kaum Anspruch auf Genauigkeit. Man konnte die Landkarte nicht einfach nach Belieben aufteilen und jedem einzelnen Teil dann eine bestimmte Anzahl neuer Schulen zuweisen, eine x-beliebige Zahl von Bildungseinrichtungen pro hundert Quadratmeilen. In Gala selbst wollte Sampson Malemba eine große neue Oberschule; benötigt wurde aber eine sorgfältig durchdachte Koordination von Bildungseinrichtungen in der gesamten Provinz, angefangen von der Volksschule bis hin zum Schulabschluß, der zumindest der mittleren Reife in England entsprechen und auch diejenigen berücksichtigen sollte, die spät angefangen hatten, sowie andere, die entweder nicht über die Mittel oder die Gelegenheit für eine weiterführende Schulbildung verfügt hatten und in eine technische Fachschule, die die elementarsten Kenntnisse vermittelte, umgeleitet werden sollten. »Wie viele Kinder sind aus den Volksschulen der Provinz in, sagen wir, fünf Jahren für die Oberschule zu erwarten? Genug, um die Plätze in einer neuen Oberschule zu füllen? Mehr als Plätze zur Verfügung stehen werden? So viele, daß es besser wäre, irgendwo anders eine weitere Oberschule zu bauen?« Aber Malemba konnte diese Fragen nicht beantworten. »Um genau zu sein: Es wird davon abhängen, wie viele neue Volksschulen wir brauchen und bekommen können.« Und das wiederum hing nicht nur davon ab, wie viele Kinder gerade zur Schule gingen, sondern auch davon, wie viele zur Schule gehen konnten. »Und davon, wie viele Lehrer wir aus dem Gesamttopf beanspruchen dürfen.« »Ah, da liegt das Problem.« Malemba war immer am glücklichsten, wenn er zustimmen konnte. Aber Bray war zu der Einsicht gekommen, daß er nur dann von Nutzen sein konnte, wenn er ein realistisches Akzeptieren der Begrenzungen mit einergewissen Hartnäckigkeit verband; er mußte davon ausgehen, daß sich die Beschränkungen überwinden ließen.
    Er machte sich auf die Reise durch die ganze Provinz, Bezirk um Bezirk, Dorf um Dorf, besuchte Schullehrer und Stammeshäuptlinge und sammelte Fakten. Er beabsichtigte, seine eigene Volkszählung durchzuführen, die Kinder im Schulalter und Jugendliche erfassen sollte, die bereits in irgendeiner Art von Beruf tätig, aber immer noch so formbar waren, daß sie vielleicht von etwas profitierten, das über eine bloß oberflächliche Ahnung vom Lesen und Schreiben hinausging. Er sah keine Möglichkeit, Überlegungen darüber, was als nächstes geschehen sollte, anzustellen, bevor das nicht geschehen war. Er begann mit Gala selbst und den umliegenden Siedlungen und hatte vor, jeden Tag, jede Woche einen größeren Radius abzufahren, bis er die gesamte Provinz, vom See bis zu den Bashi Flats, erfaßt haben würde. Solange es ging, wollte er jeden Abend nach Hause zurückfahren, um dann, wenn ihn die Kreise immer weiter vom Zentrum wegführten, jede Nacht an einem Punkt zu verbringen, der für das Gebiet, in dem er am darauffolgenden Tag seine Nachforschungen anstellen wollte, bequem erreichbar war. Malemba begleitete ihn auf seiner Tour durch Gala und Umgebung; all das war eher wie eine Schulinspektion, mit der unvermeidlichen Versammlung der Kinder, dem ängstlich-formellen Auftreten der Lehrer – und am Ende des Besuchs mit dem Gefühl, daß Höflichkeit jeden echten Kontakt mit den kichernden, erwartungsvollen Gesichtern der Kinder, die sich blind der Sonne der Aufmerksamkeit zuwandten, und den halbgebildeten, miserabel bezahlten Lehrern, die über ihrer Unzulänglichkeit entweder geschwätzig wurden oder verstummten, in nichts aufgelöst hatte. Jeden Tag während dieser ersten Woche kehrte er mit dem Gefühl heim, daß das, was in diesen kahlen Schulgebäuden mit ihrem Spielplatz aus roter, von den nackten Kinderfüßen festgestampfter Erde als Erziehung ausgegeben wurde, in Wahrheit lebloses Zeug war. Die Kinder wußten nicht, wohin vor Lebenskraft, und die abgestandenen mechanischen Lehrübungen blieben fruchtlos für sie,Tag für Tag. In sein Notizbuch schrieb er:
Wenn M.s Regierung nicht zu mehr imstande ist als den trüben Lichtkreis des Wissens, das

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