Der Eid der Heilerin
gestiegen.
»Die da. Anne. Tut so von oben herab und meint, sie sei etwas Besseres. Spielt die unschuldige Jungfrau. Phhh!«
»Wieso, ist sie denn das nicht?«, fragte Dorcas verwirrt.
»Was?«
»Anne. Ist sie denn keine Jungfrau mehr?«
Rose schnaubte, als Dame Jehanne, die die letzten Worte gehört hatte, den beiden Mädchen einen warnenden Blick zuwarf. »Immer ist sie gegen mich«, zischte Rose Dorcas zu, »nur weil ich die Wahrheit sage, die ungeschminkte Wahrheit ...«
Doch sie vergaß auf der Stelle ihren Zorn, als der gut aussehende Diener sich über ihre Schulter beugte und fragte: »Noch etwas Schweinefleisch, Mistress? Soll wie Männerfleisch schmecken, habe ich gehört«, meinte er und zwinkerte ihr sogar zu.
Rose war wieder bester Laune, bis Dorcas reichlich laut und bierselig flüsterte: »Bist du denn noch eine?«
»Was?«
»Eine Jungfrau.«
Rose verschluckte sich. Der Diener hörte es und beugte sich vor, um ihr noch etwas nachzulegen. »Stets zu Euren Diensten ...«, sagte er und zwinkerte lüstern. Rose wurde ganz warm ums Herz, vor allem, als sie die festen Hinterbacken unter seinem kurzen Wams erblickte, als er davonging. Anne war im Nu wieder vergessen.
Anne war völlig durcheinander, als sie aus dem lauten Saal flüchtete. Wie der König sie die ganze Zeit angesehen hatte! Er spielte mit ihr, gewiss diente sie ihm nur als Zerstreuung, nach allem, was sie über ihn gehört hatte. Aber für so etwas gab sie sich nicht her! Ihr war nach Weinen und nach Lachen zugleich zumute. Sie fühlte sich wie ...
»Und nun ist es an der Zeit, dass du dein Versprechen einlöst.« Anne war um eine dunkle Ecke gebogen, und dort, im Schein der Wandleuchter, stand der König und streckte ihr die Hand entgegen. »Komm.«
Einen Augenblick lang war sie wie versteinert, ehe sie langsam auf ihn zuging. Ihr Herz hämmerte, und ihr Mund war wie ausgetrocknet. Schließlich stand sie nur noch einen Fuß von ihm entfernt.
Er lächelte nicht. »Gib mir deine Hand«, raunte er. Bei allem Verlangen blitzte einen kurzen Augenblick die Vernunft in ihr auf und mahnte sie zur Vorsicht. Doch als sie ihm in die Augen sah, wurde sie von der Intensität seines Blickes geradezu magnetisch angezogen. Schweigend reichte sie ihm die Hand. Er ergriff sie und zog sie an sich. Ihre Augen versanken ineinander. Er beugte sich zu ihr herab, umschlang zärtlich ihren Körper und küsste sie sanft auf den Mund, dann noch einmal, tiefer und inniger diesmal.
Sie schloss die Augen und überließ ihren Mund seinen Lippen, dann ihren Hals und wieder ihren Mund. Ihr Körper drängte sich gegen den seinen, seine Küsse wurden leidenschaftlicher, tiefer und fordernder - bis das Blut in Annes Ohren so laut rauschte, dass sie glaubte, die Besinnung zu verlieren.
In diesem Moment hörte sie die Festgäste aus dem Saal strömen. Rasch streifte Edward seinen eleganten Mantel ab und legte ihn ihr um die Schultern. Lady Margarets Geschenk, ihr unverwechselbares grünes Kleid, verschwand unter dem Umhang, ebenso ihr Gesicht, das von der pelzgefütterten Kapuze verhüllt wurde, so dass nur noch ihre Augen in der Dunkelheit zu erkennen waren. Edward legte ihr den Arm um die Taille, und sie liefen durch die Innenhöfe zu dem Gebäudeflügel, in dem sich seine Gemächer befanden.
Draußen herrschte eine tückische Kälte. Es regnete und stürmte, und selbst die Wachmänner, die das äußere Tor zum königlichen Wohntrakt bewachten, drängten sich unter dem überhängenden Türsturz um ein Kohlebecken. Doch Edward hatte einen privaten Zugang zu seinen Gemächern. Er führte
Anne zu einer kleinen Tür neben einem der großen Erkerfenster, die er an dem alten Gebäude hatte anbringen lassen. Die Tür war hinter einem feuchten, kalten Efeuvorhang verborgen und nicht verschlossen. Ein rasches Drehen des eisernen Knaufs, und sie traten in die Dunkelheit, ohne dass die Wachen etwas davon bemerkt hätten.
»Komm her.«
Nach dem flackernden Fackellicht der Höfe mussten sich ihre Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen, aber sie wusste, dass er dicht neben ihr stand, denn sein Duft stieg ihr in die Nase. Dann spürte sie seine Hände auf ihren Hüften und seine Lippen auf ihrem Mund. Ihr Körper kam ihm entgegen, doch nur für einen kurzen Moment. Sie schlang die Arme um seinen Hals und presste ihre Brüste an seinen Leib, so dass er den Schlag ihres Herzens spürte.
Er lachte - ein dunkles, tiefes Geräusch, das seine aufrichtige Freude verriet. »Wir sind
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