Der Eid der Heilerin
Cuttifer. Du musst zu ihm. Ich sehe keine andere Möglichkeit.«
»Aber Jehanne, vielleicht ist er gar nicht bereit, Anne aufzunehmen, wenn er genauer darüber nachgedacht hat.« Deborahs besorgte Miene spiegelte Annes heimliche Befürchtungen wider.
»Würde ich sie nicht in Gefahr bringen? Sir Mathews Familie, meine ich. Sollen wir nicht lieber warten? Er sagte, er lässt mir eine Nachricht zukommen ...«, meinte Anne.
»Dafür ist es zu spät«, widersprach Jehanne in ihrer typisch praktischen Art. »Wir müssen dich fortbringen, heute noch, wenn möglich. Nach London. Du musst außer Reichweite des Königs. Es ist zu gef ä hrlich für dich, noch länger hier zu bleiben.«
Jehanne zitterte, als sie an den kurzen Wortwechsel zwischen Elizabeth und Edward dachte, den sie nach der Messe belauscht hatte. Annes Abwesenheit war nicht unbemerkt geblieben, und obwohl Jehanne sie wegen Fiebers entschuldigt hatte, hatte sich die Königin lachend beim König erkundigt, ob er die Ursache für die ständigen Unpässlichkeiten des Mädchens sei. Sie hatte die Worte scherzhaft klingen lassen, und der König hatte lachend verneint. Aber Jehanne kannte Elizabeth gut genug. Sie wollte den König wissen lassen, dass ihr sein Interesse an ihrer Kammerzofe nicht entgangen war. Und dass sie genug davon hatte.
Der Augenblick, den Anne am meisten gefürchtet hatte, war also gekommen. Das Schicksal forderte sein Recht. Der Weg lag vor ihr, und im Innersten ihres Herzens wusste sie, dass es der richtige Weg war. Sie wusste, dass sie fortgehen musste. Trotzdem war die Vorstellung unerträglich, den König nicht mehr zu sehen - oder, wenn sie ihn sah, womöglich als seine Feindin betrachtet zu werden.
Unbewusst betete sie, erst zu Maria, dann zu Aine, und flehte um Hilfe. Aber sie bekam keine Antwort, nur in der Ferne hörte sie das Weinen eines Kindes, und dann hallte die Weihnachtsmusik in ihrem Kopf wider, ein Lied über Erlösung und Hoffnung, über die Wiedergeburt inmitten der Verzweiflung ...
»Wenn du glaubst, das sei das Beste für mich, bin ich bereit«, sagte Anne ruhig, aber ihre Stimme klang elend. Als sie zu den beiden Frauen aufschaute, sahen sie ein völlig verändertes Gesicht vor sich. Annes Züge waren gestrafft, die Wangenknochen traten deutlich hervor, von kindlichen Rundungen keine Spur mehr. Gefasst stand sie vor ihnen und zeigte eine Haltung von ergreifender Würde.
Jehanne verspürte den absurden Drang, vor ihr zu knicksen, schob den Gedanken aber mit einem unwilligen Kopfschütteln schnell beiseite. Dafür war später noch genug Zeit. Jetzt mussten sie Anne erst einmal ohne viel Aufhebens aus dem Schloss schaffen - aber wie sollten sie das anstellen?
»Jehanne, Doktor Moss wird mir helfen, das Schloss zu verlassen.«
Jehanne war diese Vorstellung höchst unangenehm. »Kind, er wird uns nur helfen, wenn es seinen eigenen Interessen dient. Wir können ihm nicht trauen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er dafür riskieren würde, bei der Königin oder dem König in Ungnade zu fallen.«
Doch Anne beharrte auf ihrem Vorschlag. Die Rollen zwischen ihr und Jehanne hatten sich beinahe vertauscht.
»Bittet ihn in meinem Namen darum. Sagt ihm, ich würde es ihm reichlich danken ... zu einem späteren Zeitpunkt«, sagte Anne mit einer Bestimmtheit, die Deborahs Kopfhaut prickeln ließ - ein Gefühl, das sie nur hatte, wenn sie in die Zukunft schaute. Auch Jehanne hörte diesen Ton und zuckte unwillig die Achseln. Dann eilte sie davon, um Annes Bitte nachzukommen, während Deborah und Anne sich das Ende des Krippenspiels ansahen.
Anne sagte nichts mehr, denn im Geiste hörte sie noch immer das Rauschen des Meeres, und auf ihrer Zunge lag der Geschmack von Salz. Oder von Tränen.
Hewlett-Packard
Kapitel 29
Seine Stimme war kalt wie der Wintertag. »Unmöglich. Ihr wisst, dass das ganz unmöglich ist.« Doktor Moss war in seinem Arbeitszimmer und bereitete einen Stärkungstrank für die Königin vor. Er war mit seiner Arbeit gut vorangekommen, bis Jehanne bei ihm angeklopft und den heiklen Destillationsprozess unterbrochen hatte. Entschieden schüttelte er den Kopf. Ihre Bitte war völlig abwegig, und er hatte ausreichend Gründe, jegliche Hilfe zu verweigern. Bei der Königin für Anne um Urlaub bitten, damit sie den Hof verlassen konnte? An Weihnachten? Heute?
»Aber Sir, Ihr braucht doch nur zu sagen, ihre Mutter sei sehr krank, todkrank, und bräuchte das Mädchen.«
»Aber warum sollte ich so etwas
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