Der Eid der Heilerin
angefangen hatte. »Ich habe vor kurzem merkwürdige Dinge erfahren, Sir. Dinge über meine ... Vergangenheit. Diese Dinge klingen so unwirklich, als wären sie einer Rittersage entsprungen. Aber die Person, der ich am meisten vertraue, hat mir bestätigt, dass diese Dinge wahr sind. Und wenn dem so ist, schwebe ich in Gefahr und mit mir vielleicht das ganze Königreich. Ich brauche Euren Rat.«
Unwillkürlich war Mathews Neugier geweckt. »Deine Eltern, Kind? Mistress Deborah?«
»Sir Mathew, vielleicht erinnert Ihr Euch, Deborah ist meine Ziehmutter. Meine richtige Mutter hieß Alyce de Bohun. Sie erwartete von König Henry ein Kind. Es scheint, dass ich dieses Kind bin.«
Mathew hörte die Worte, doch es dauerte eine Weile, bis er ihren Sinn begriff. »Gibt es Beweise dafür?« Bereits als er die Frage formulierte, konnte er seinen eigenen Worten kaum trauen. Was Anne da behauptete, war einfach absurd.
»Ja. Es gibt einen Brief des alten Königs ... meines Vaters, doch ich habe ihn nicht gesehen. Und es gibt noch andere Beweisstücke. Sir, was soll ich tun?« Bis zu diesem Punkt hatte Anne klar sprechen können, doch nun zitterte ihre Stimme, und sie sah flehend zu Mathew auf.
Der Kaufmann war sprachlos. Die kleine Kammerjungfer seiner Frau war in den vergangenen Monaten gereift, eine fast erwachsene Frau und eine Schönheit geworden. Mathew schüttelte den Kopf, ließ seinen Blick über ihr Gesicht wandern und studierte sorgf ä ltig ihre Züge. Um Zeit zu gewinnen, erhob er sich, trat ans Feuer und wärmte seine Hände. »War deine Mutter Engländerin?«
»Ja, Sir. Ihre Familie stammte aus Somerset. Mein Großvater mütterlicherseits kämpfte an der Seite des Herzogs von Somerset in Frankreich.«
»Also eine Lady?«, meinte Mathew vorsichtig.
Anne nickte. Ja, das stimmte. Ihre Mutter war eine Adlige gewesen.
»Weiß der König von dir?«
Anne schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er kann es gar nicht wissen. Es heißt, ich sei bei meiner Geburt gestorben. Die alte Königin, Margaret von Anjou, wollte meine Mutter - und auch mich - töten lassen. Aber wie Ihr seht...«
Ja, das tat er. Und je genauer er sie ansah, umso glaubwürdiger klang ihre Geschichte. Er durchforstete sein Gedächtnis. Als kleiner Junge hatte er einmal den großen König Henry V., den Vater von Henry VI., gesehen. Er war am Straßenrand hochgehoben worden, als der König, gefolgt von zehntausend Mannen, bei der Rückkehr aus der glorreichen Schlacht bei Azincourt durch London gezogen war. Der König war damals ein kräftiger, gut aussehender Mann in den besten Jahren gewesen. Mathew hatte das Bild des Königs, den er ganz kurz von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, niemals vergessen - er, ein kleiner Junge auf den Schultern seines Vaters, und Henry zum Greifen nah in den engen Straßen von London.
Der König hatte seinen kleinen Untertanen angelächelt, mit kräftigen, weißen Zähnen und strahlend blaugrünen Augen - Augen wie die des Mädchens, das dort vor ihm saß. Und es besaß auch dasselbe rotbraune Haar und denselben hellen Teint.
Mathew dachte an die Ankunft des Mädchens in seinem Haus zurück, an sein Unbehagen, weil sie so ... nun, so gar nicht wie eine Dienstbotin aussah. Und nun saß sie vor ihm, aufrecht wie eine Königin - nur ihre eigentümlichen Augen blickten ihn voller Angst und Unsicherheit an.
»Was soll ich tun, Master Mathew?«
In seiner Eitelkeit wollte er sie erst korrigieren - sie auf seinen neuen Titel hinweisen -, aber es gab Wichtigeres. »Ja, ich kann deine Sorge verstehen. Wenn deine Geschichte wahr ist, hast du Recht. Du wärst eine wertvolle Figur in den Händen derer, die in diesem Land um die Macht ringen. Eine Schachfigur, meine ich«, fügte er eilig hinzu, ehe er an das kleine Fenster trat, das in die dicken Wände des Wachhauses eingelassen war. Im Zimmer war es einen Augenblick lang ganz still. Von den Pferden noch immer keine Spur, stellte er zerstreut fest, aber das war jetzt nicht wichtig.
Ja. Ein englisches Kind von Henry VI. wäre bei dem gegenwärtigen Machtspiel in England von durchschlagender Bedeutung. Viele erkannten den Sohn der französischen Königin nicht als legitimen Sohn Henrys an und wären froh über eine neue englische Prinzessin, ob nun ehelich oder nicht. Auch Edward hatte bislang nur eine Tochter zur Nachfolge - selbst wenn die Königin wieder schwanger war. Anne hingegen war im heiratsfähigen Alter, und das war der entscheidende Unterschied.
Eine
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