Der Eid der Heilerin
heiratsfähige, englische Tochter des alten Königs - den viele immer noch als den rechtmäßigen König betrachteten - würde all jene zusammenschließen, die das Haus York mit König Edward vertreiben wollten, und die auch die machtgierige Margaret von Anjou und ihren zweifelhaften Sohn ablehnten. Sollte sich Annes Herkunft beweisen lassen, würden viele mächtige Edelleute, darunter auch Warwick, auftauchen, die einem anderen König als Edward auf dem Thron von England den Vorzug gaben.
Eine eilige, glanzvolle Hochzeit mit jemandem aus Warwicks Familie - vielleicht sogar mit Clarence -, und die Tat wäre vollbracht. Eine neue Königsfamilie entstünde, eine Familie, die Warwick besser unter Kontrolle halten konnte, nachdem Edward zu mächtig geworden war und sich seinem Zugriff entzogen hatte.
Doch auf Mathew wartete eine dringende Aufgabe. Er musste Geld auftreiben, um Edward im Kampf gegen Warwick und Clarence unterstützen zu können. Mathew schloss die Augen. Bilder von Aufruhr, Feuer und Blut schössen ihm durch den Kopf, Dinge, die er, Gott möge ihn erhören, nie wieder in seinem Leben zu sehen wünschte.
»Sir Mathew? Ich muss bald wieder ins Schloss zurück. Was soll ich tun?«
»Nichts. Im Moment gar nichts. Ich werde mich mit Lady Margaret beraten - sie wird zweifellos Nützliches zu dieser Angelegenheit zu sagen haben. Ich schlage vor, du versuchst in der Zwischenzeit, diesen Brief zu beschaffen, den der König angeblich besitzt, und dass du niemandem, absolut niemandem, erzählst, was du mir heute gesagt hast. Wenn sich deine Behauptung als wahr erweist, werde ich dir helfen. Aber wir müssen unsere Schritte sorgfältig planen können. Bist du damit einverstanden?«
Er widerstand dem Drang, sich vor der stillen Gestalt, die dort vor ihm auf der Bank saß, zu verneigen. Seltsam, wie sich ein ganz gewöhnlicher Mensch von einem Augenblick zum nächsten in etwas vollkommen anderes - in ein Symbol? - verwandeln konnte. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schwall kaltes Wasser an einem heißen Sommertag. Mit seinem Wissen befanden sich auch er und seine Familie in großer Gefahr. Er hatte versprochen, ihr zu helfen, und er wollte zu seinem Wort stehen. Die Frage war nur, wie er das bewerkstelligen sollte? Und was würde ihm die Hilfe bringen? Den Tod oder größeren Einfluss?
Von draußen waren die Rufe der Männer zu hören, und einen Augenblick später klopfte der Hauptmann ehrerbietig an die Tür des kleinen Zimmers. »Die Pferde sind eingetroffen. Wenn Sir Mathew bereit wäre ...«
Sir Mathew war bereit, doch zuerst trat er vor Anne und nahm behutsam ihre kleine, raue Arbeitshand. »Euer Diener, Lady.« Er meinte es aufrichtig. »Ich werde Euch durch eine Vertrauensperson benachrichtigen lassen. Sobald ich kann ...«
Anne hörte den lärmenden Aufbruch der Männer, aber die Geräusche kamen von weit, weit her. Sie zitterte, als sie in die glühenden Kohlen der Feuerstelle starrte, obwohl es in dem kleinen Zimmer nicht kalt war.
Sie nahm eine Bewegung wahr, und einen Moment lang sah sie ... was sah sie? Sie sah das schwarze, kalte Meer unter dem bestirnten Himmel, hörte das Rauschen der Wellen, die über die Uferkiesel brandeten, und sah ein großes Schiff, das vor Anker schaukelte und wartete ... auf sie wartete. Ihr wurde schwindelig und sie schloss die Augen und versuchte, sich zu sammeln und den Geruch nach salzigem Wind zu ignorieren, der plötzlich durch das kleine Zimmer zog. Windsor lag mitten im Landesinneren, weit weg vom Meer ...
Ein dickes Holzscheit im Feuer brach entzwei und zeigte sein glühendes, pulsierendes Inneres. Voller Tatendrang sprang Anne auf. Sie besaß weder Geld noch Gut, nur eine Hand voll Freunde, auf die sie zählen konnte. Aber sie hatte ein Zeichen erhalten, ein Omen, das sie mit eigentümlicher Hoffnung erfüllte. Die Vision vom Meer erschien ihr irgendwie stimmig, sie fühlte sich wahr an. Vielleicht bedeutete sie, dass das Rad des Schicksals sich tatsächlich zu drehen begonnen hatte. Und wenn ja, dann blieb ihr keine andere Wahl, als sich festzuhalten und sich mitzudrehen.
Deborah und Jehanne hatten sich in eine ruhige Ecke auf der Empore der St. Georges Hall zurückgezogen. Die Königin hatte für ihren Gemahl eine Überraschung vorbereiten lassen. Die Bewohner von Windsor würden ein Krippenspiel aufführen, aber nicht wie gewohnt im Hof eines Gasthauses oder vor einer der Kirchen im Dorf, sondern wegen des schlechten Wetters im Schloss.
Deborah sah
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