Der Eid der Heilerin
dorthin gebracht werden. Das Schiff transportiert die Stoffe, die ich jedes Jahr aus unserer Wolle oben im Norden weben lasse, und oft fahrt es weit hinaus, bis hinüber nach Frankreich oder sogar noch weiter. Aber so weit braucht Ihr nicht zu fahren, das verspreche ich Euch. Ihr werdet Euch den ganzen Weg bis Whitby dicht an der Küste halten. Wir müssen nur noch den geeigneten Zeitpunkt für Eure Reise finden.«
Das war kein Traum, sondern die Wirklichkeit. Und während Mathew mit ruhiger Stimme seinen Plan erläuterte, hatte Anne das Gefühl, als drehte sich das Rad des Schicksals mit beängstigender Geschwindigkeit.
Niedergeschlagen ließ sie sich schließlich in Avelines altes Zimmer bringen, jenes Gemach, das sie vor der Ehetragödie gemeinsam bewohnt hatten und in das Aveline nach der Ermordung von Piers eingesperrt worden war. Natürlich war das herrschaftliche Bettgestell nun für Anne bestimmt, doch als der Riegel vor die Tür gelegt wurde, kam ihr ein Gedanke in den Sinn, der sich nicht mehr vertreiben lassen wollte.
Sir Mathew hatte sich, wie es schien, ihrer Sache bedingungslos angenommen, aber war er ihr auch wirklich wohl gesonnen? War sie nun eine Gefangene, die dem König ausgeliefert werden sollte? Der König. Energisch verbot sie sich jeden Gedanken an ihn, aber einen süßen Augenblick lang träumte sie davon, seine Gefangene zu sein - eingesperrt in einen Turm wie eine Märchenprinzessin, und er allein besäße den Schlüssel zu ihrem Kerker. Sie betrachtete die schmale Bettstatt und sah ihn im Geiste dort liegen und sie, nackt, in seinen Armen schmachten. Die Vorstellung war so lebhaft, als wäre sie Wirklichkeit.
Aber natürlich war alles nur Einbildung, ein Märchen. Und Märchen waren nicht wahr, sondern dienten nur der Zerstreuung und der Unterhaltung. Das wirkliche Leben war das, was in diesem Zimmer geschehen war: Unglück, Verrat und Tod. Und sie war nicht in der Lage gewesen, es zu verhindern. Arme Aveline. Schaute sie wohl von dort, wo ihre Seele jetzt wohnte, auf Anne herab?
Anne fiel auf die Knie und barg ihr Gesicht in den Kissen. »Schwester, hilf mir ... wenn du kannst. Denn auch ich liebe, und diese Liebe kann auch mein Tod sein.«
Hewlett-Packard
Kapitel 32
Bevor Anne und Deborah zu ihrer nächsten Reise aufbrachen, konnten sie ruhen, essen und schlafen. Das Wetter Anfang Januar war grässlich. Es regnete ständig, nachts pfiff ein eisiger Wind um den Turm von Blessing House, und die Stadt war voller Möwen, die Schutz vor den stürmischen Wellen des Ärmelkanals suchten.
Eines Tages brach endlich ein schöner, klarer Morgen an.
Kein Lüftchen regte sich, und der Himmel war wolkenlos. Am späteren Vormittag schien fahl die Sonne auf die Menschen hernieder, die blinzelnd aus ihren düsteren, rußschwarzen Häusern kamen.
Anne erwachte schon vor Morgengrauen. Alles war still - in ihrem Bauch tobte die Angst und kroch an ihrem Rückgrat empor. War heute der Tag gekommen? Sie betrachtete die neue Reisetruhe, die zwischen ihrer schmalen Bettstatt und dem Strohlager mit der schlafenden Deborah stand.
Die Truhe gehörte ihr, ein Geschenk von Sir Mathew, und enthielt drei komplette neue Kleidergarnituren: ein strapazierfähiges Wollkleid sowie zwei Gewänder aus schwerem, schlichten Samt mit pelzbesetzten Ärmeln und brokatverziertem Damastfutter. Außerdem ein Reiseumhang und genagelte Lederschuhe sowie ein Paar Holzschuhe für die matschigen Straßen, alles Dinge, die für eine Dienstbotin viel zu vornehm waren und die sie niemals in Blessing House anziehen würde.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie war hellwach, obwohl sie am liebsten weitergedämmert hätte. Vorsichtig zog sie die Vorhänge an ihrem Bett zur Seite und tapste nackt und barfüßig zu dem Wandhaken, wo sie am Abend zuvor ihr Unterkleid aufgehängt hatte.
Zitternd vor Kälte streifte sie es über und spähte durch die offene Schießscharte nach draußen. Im weißen Licht des frühen Morgens vergingen die letzten, kalten Sterne. Der Frost glitzerte im strahlenden Glanz der aufgehenden Sonne.
Margaret und Mathew hatten nach der stürmischen Nacht lange geschlafen und unterhielten sich nun leise hinter den zugezogenen Vorhängen ihres Bettes. Yseul huschte herein und fragte schüchtern, ob sie ihnen Wasser zum Mundausspülen bringen dürfe. Auf ein zustimmendes Wort von Sir
Mathew reichte sie ihnen die Wasserschüssel durch die geschlossenen Vorhänge und wartete geduldig, bis sie angesprochen
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