Der Eid der Heilerin
hindurchgeschoben. Anne erkannte auf den ersten Blick das unversehrte Siegel von Sir Mathew, und als die Schriftrolle geöffnet wurde, sah sie seine sorgfältige Unterschrift »Sir Mathew Cuttifer, Baronet«. Das Schriftstück stammte tatsächlich von ihm, sie waren in Sicherheit.
Deborah nahm Anne glücklich in die Arme, dann blickte sie ein wenig schuldbewusst zur Subpriorin. »Ist es erlaubt, mit diesen Männern zu sprechen, Schwester?«
Die Subpriorin nickte unwillig. »Nun gut, Ihr mögt durch die Luke mit ihnen sprechen, aber wenn Ihr für heute Nacht Unterkunft begehrt, sollte Euer Gespräch kurz sein. Ihr könnt es morgen fortsetzen.« Sie drehte sich zu den wartenden Nonnen um und klatschte in die Hände. »Kommt, kommt, Schwestern, genug von diesem Unfug.«
Als sie mit den anderen Nonnen in der Dunkelheit verschwand, bekreuzigte sich Anne und holte tief Luft. Sie hatte Freunde! Sir Mathew glaubte ihr.
Sie sammelte sich und trat mit Deborah an die Luke. Die Anspannung fiel von ihr ab, und Ruhe und Zuversicht legten sich wie ein Mantel um sie. Trotzdem hatte ihre Stimme unter den höflichen Worten, die sie mit Mathews Männern austauschte, einen anrührenden, verletzlichen Beiklang, womit sie die Sympathie und den Respekt selbst jenes Mannes gewann, dessen Gesicht sie mit ihrer kleinen, entschlossenen Faust verwüstet hatte.
In dieser Nacht beteten die beiden Frauen gemeinsam vor ihren Lagern in der sauberen, spartanisch eingerichteten Gästezelle, die ihnen zugewiesen worden war. Anne hielt Deborahs Hand auch noch, als sie in Schlaf fiel. Sie träumte von ihrer Mutter: Ein Mädchen, jünger als sie, wandelte auf einer blumenübersäten Wiese, breitete lächelnd die Arme aus und rief sie liebevoll zu sich heim.
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Kapitel 31
London lag noch in tiefem Schlaf, als Anne und ihre Begleiter vor der Stadtmauer darauf warteten, dass die Tore geöffnet wurden. Es war noch fast dunkel, und obwohl auf den Straßen hinter der Mauer langsam das Leben erwachte, war es für die Händler, die Essen und Dünnbier feilboten, noch zu früh.
Anne und Deborah waren schmutzig und steif vor Kälte. Die Pferde der Männer vor, neben und hinter ihnen hatten auf den aufgewühlten Landstraßen Lehm aufgeworfen, von dem auch die beiden Frauen nicht verschont geblieben waren.
Endlich wurden die Fallgitter hochgezogen und die riesigen Tore von den Wächtern aufgestemmt. Die ungeduldige Menschenmenge, die sich mittlerweile vor dem Tor gebildet hatte, strömte in die Stadt. Das königliche Wappen auf John Slaughters Uniform und die lauten Rufe und blitzenden Schwerter von Mathew Cuttifers Männern brachten sie im Nu an die Spitze des Menschenstroms. Aber kaum hatten sie die engen, schmutzigen Gassen hinter dem Tor erreicht, blieben sie im Gewühl stecken.
Als die Männer versuchten, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, fiel Anne wieder ein, wie sie zum ersten Mal die London Bridge überquert hatte. Nun gehörten sie und Deborah zu denjenigen, die die anderen beiseite stießen, und auch sie trugen feine Kleider, viel feinere als all die anderen Menschen um sie herum.
Der vertraute Gestank aus Rauch, Verwesung und Exkrementen nahm ihnen den Atem. Sie ritten hintereinander an den windschiefen Häusern entlang und versuchten, ihre Pferde von dem stinkenden, mit Unrat gefüllten Graben fern zu halten, der in der Mitte der Straße verlief. Endlich erreichten sie die King Street, und als sie zum Fluss abbogen, sahen sie Blessing House vor sich.
Anne stellte überrascht fest, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. War es wirklich erst sechs Monate her, dass dieses düstere Gebäude ihr Zuhause gewesen war? Nun kehrte sie zurück, aber nicht als Dienstmädchen, sondern als ein geheimnisvolles, vielleicht sogar bedrohliches Wesen.
Erleichtert stieg sie vor dem Haus ab, tätschelte Minettes dampfenden Hals und flüsterte ihr in das zuckende, graue Ohr: »Du musst mich jetzt nicht mehr tragen - aber ich danke dir. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.« Es war ihr peinlich, dass sie nichts besaß, was sie John Slaughter zum Dank für seine Mühe hätte geben können. Stattdessen trat sie vor ihn und streckte dem freundlichen Mann die Hand entgegen.
»John, du bist so gut zu uns gewesen. Ich werde Sir Mathew und Sergeant Cage davon unterrichten. Gott sei mit dir.« John fasste sich an seine flache Lederkappe und entblößte seinen großen, gelben Zahn, als er das Gesicht zu einem breiten Grinsen verzog.
»Es war mir eine
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