Der Eid der Heilerin
öffentlich bestrafen zu lassen, wenn er Aveline weiterhin misshandle. Piers hatte seitdem kein Wort mehr mit seiner Frau gesprochen und zeigte auch keinerlei Zuneigung zu seinem kleinen Sohn.
Piers stand also wie gewohnt schweigend neben Aveline, während Lady Margaret den friedlich schlafenden Säugling im Arm hielt. Er war fest in Tücher gewickelt, und nur ein dichter, dunkler Haarschopf lugte wie ein kleiner Federbu- schen heraus. Anne beobachtete, wie sich Mathews Miene beim Anblick seines Enkels zärtlich erhellte - sie hatte ihn einmal zu Margaret sagen hören, er erkenne seinen eigenen Vater im Gesicht des Kindchens wieder, und sie wusste, dass er seinen Vater sehr geliebt hatte. Doch nun, als Margaret sich an ihn wandte, fasste er sich rasch wieder.
»Da seid Ihr ja, Mathew, Master John.« Margaret deutete einen Knicks vor dem Gast an. »Melly, du kannst Edward jetzt nehmen.« Melly, die erst vor kurzem zum Kindermädchen befördert worden war, eilte nach vorn und nahm das schlafende Kind vorsichtig aus den Armen seiner Großmutter. »Sieh zu, dass die Amme ihn nicht überfüttert, wenn er wach wird. Und nach dem Stillen soll er frisch gewickelt werden. Wir werden nicht sehr lange fortbleiben.«
John Lambert wunderte sich, dass weder Vater noch Mutter irgendein Interesse für das Kind zeigten. Aveline war bleich und beherrscht und ging, dicht gefolgt von Anne, stumm an der Seite ihres Ehemanns hinter Margaret her. Sie hatte die Augen niedergeschlagen und die Hände um das Messbuch gefaltet.
Master Lambert hatte den Eindruck, dass Aveline sich von der Geburt ihres Sohnes gut erholt hatte. Offensichtlich wurden auch ihre Brüste nicht mehr gebunden, um den Milchfluss zu unterbinden - als Piers' Gattin wurde natürlich nicht von ihr erwartet, dass sie selbst stillte. Nur Mathew bemerkte missbilligend, dass das Oberteil von Avelines modischem, hochtailliertem Kleid vorne keine Schnürbänder aufwies. Diese neumodische Art, Frauen von Stand nicht mehr selbst stillen zu lassen, erschien ihm töricht und gefährlich. Wer wusste schon, ob eine Amme ein fremdes Kind mit derselben Hingabe nährte wie ihr eigenes? Trotzdem hatte er nachgegeben, als Margaret ihm erklärt hatte, es sei unschicklich, wenn die Frauen bei Hof seine Schwiegertochter als Milchkuh betrachteten. Allerdings hatte er darauf bestanden, die Amme für seinen Enkel gemeinsam mit Margaret auszusuchen, da weder Piers noch Aveline Interesse dafür zeigten.
Nach der Stille des Hauses erschienen die Straßen der Stadt wie ein lärmendes Babel. Vor der Gesellschaft gingen die Diener in ihrer neuen zweifarbigen Tracht, blau wie die
Farbe der heiligen Jungfrau und rosa zur Feier, der Geburt. Dann folgten Mathew und John Lambert mit den Mitgliedern der Familie. Ganz vorn ging Piers' Leibdiener mit einem edlen Lederbeutel, den das Wappen der Cuttifers zierte, und warf vergnügt Silberlinge in die Menge. Diese Freigiebigkeit lockte mehr und mehr Menschen auf die Straße, die kreischend durch den Staub krochen und die Münzen einsammelten. Bald war das Gedränge so groß, dass das Grüppchen aus Blessing House kaum noch ein Durchkommen fand.
Genau das hatte Mathew beabsichtigt. London, die größte Stadt im ganzen Königreich, mit den mindestens einhunderttausend Seelen innerhalb und außerhalb der Stadtmauern, war trotz seiner Größe immer noch ein Dorf. Seine Konkurrenten sollten ruhig von dieser großzügigen Geste erfahren, das würde sein Ansehen nur noch steigern. Er lächelte kurz, als er sich der Ironie der Situation bewusst wurde - mit Geld um sich zu werfen, konnte sich manchmal als durchaus nützlich fürs Geschäft erweisen.
Schließlich waren alle Münzen verteilt, und die Menge gab den Weg durch das Torhaus zur Abtei frei. Dort drängten sich wie jeden Tag die Pilger, die den Schrein von Edward dem Bekenner aufsuchen wollten.
Es war beinahe Mittag, und die Sonne brannte heiß hernieder, doch Mathew und seine Familie wurden bereits erwartet. Der Abt hatte dafür gesorgt, dass sie als besonderes Zeichen seiner Gunst die Abtei durch das große Nordtor betreten durften, das gewöhnlich nur für Staatsanlässe geöffnet wurde.
Als Anne ihrer Herrschaft in das dämmrige Gebäude folgte, wurde ihr bewusst, dass sie es seit ihrer Begegnung mit dem König nicht mehr betreten hatte. Unwillkürlich dachte sie an Deborahs Worte »Er ist zu mächtig für dich ...« zurück. Auf Deborahs Rat hin war es ihr beinahe gelungen, den
König zu vergessen.
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