Der Eid der Heilerin
Nun aber, inmitten dieses riesigen, von Menschenhand erschaffenen Steinwaldes, hob sie den Kopf und blickte in ein Abbild Edwards. Es lächelte aus der Mitte einer großen Rosette des längst verstorbenen Baumeisters Henry von Reyns auf sie herab. Erschüttert, weil sie an das geradezu ketzerisch schöne Gesicht des Königs dachte, eilte sie ihrer Herrschaft zur Marienkapelle nach, fest entschlossen, sich ganz auf den Dankgottesdienst zu konzentrieren und sich jeden Gedanken an den fernen König zu verbieten.
Anne betrachtete Aveline, die neben Piers vorn am Altar kniete und auf den Segen des Abts wartete. Aber gerade als der alte Mann über dem geneigten Haupt Avelines zu seinem lateinischen Singsang anhob, machte sich hinter ihr leichte Unruhe breit. Missbilligend sah der Pfarrer auf, doch seine Miene erhellte sich augenblicklich, als er die Neuankömmlinge erkannte. Es war der König mit einer kleinen Schar von Höflingen.
Edward und seine Begleiter strebten nach vorn, wo eilig Plätze für sie frei gemacht wurden. Mathew bestand darauf, seinen Stuhl zu räumen, der König erlaubte jedoch nicht, dass einer der Höflinge Lady Margarets Platz einnahm. Nach einigen förmlichen Ehrbekundungen hatten die Neuankömmlinge Platz genommen, und der König bedeutete dem Abt, mit dem Gottesdienst fortzufahren.
Nun flehte der Abt zu Gott, seine Dienerin Aveline, die während der erlittenen Schmerzen den Segen und die Unterstützung des Allmächtigen erfahren hatte, möge gläubig den Pfad beschreiten, der einer guten Christin als Ehefrau und Mutter vorgegeben sei. Die Anwesenheit des Königs machte es Anne unmöglich, sich auf die endlosen Gebete zu konzentrieren. Ihr Herz raste, und sie senkte den Kopf, um die anderen Frauen von Blessing House ihre Verwirrung nicht merken zu lassen. Ob er sich nach sechs Monaten noch an sie erinnerte? Und wenn ja, was hätte das zu bedeuten? Sie war nur eine Dienerin, ein Niemand, und er war der König, der jeden Tag zahllosen Menschen begegnete. »Der König hat sich von dir abgewandt ... Er ist zu mächtig für dich ...«, murmelte sie, obwohl sie ebenso gut die Jahreszeiten oder Wochentage hätte aufsagen können. Deborahs Warnung zeigte keinerlei Wirkung. Er war viel zu nah - so nah, dass sie den Ambraduft in seinen Kleidern riechen konnte ...
Die Gebete kamen zum Ende, und die Gemeinde stand auf, als Aveline zum Zeichen ihrer Dankbarkeit für die glückliche Geburt ihres Sohnes dem Abt ein Geschenk überreichte. Anne erhob sich gerade noch rechtzeitig, um zu beobachten, wie Aveline ruhig nach vorn trat und dem Abt mit einer Verbeugung eine kostbar bestickte Altardecke übergab, die sie selbst gefertigt hatte. Anne, die wusste, wie qualvoll die Geburt gewesen und was ihr vorausgegangen war, erschien es, als wäre die Stickerei aus Tränen gemacht worden, aus Tränen, die die Gestalt der Perlen angenommen hatten, die an den Rändern des edlen, blauen Stoffes aufgestickt waren. Piers trat ebenfalls vor und stellte sich neben seine Frau. Er verneigte sich und überreichte mit versteinerter Miene ein eigenes Geschenk, ein kostbares Silbertablett für den Altar der Marienkapelle.
Mit einem Mal begann Anne zu frieren, denn Piers stand unmittelbar neben einer schauerlichen Steinfigur, einem grinsenden Totenkopf, der die Grabplatte eines ehemaligen Abtes zierte und an die Vergänglichkeit des Lebens erinnern sollte. Als Piers sich umwandte, zeichnete sich unvermittelt durch eine Täuschung des Lichts sein Schädelknochen unter der Haut ab. Für den Bruchteil einer Sekunde verwandelte er sich von einem Lebenden zu einem wächsernen, wandelnden Leichnam, der sich einem Höllenbild gleich vom Altar auf sie zubewegte. Unwillkürlich stieß sie einen leisen Schrei aus und versuchte, sich hinter Jassy zu verbergen.
Die Haushälterin war höchst verwundert. Sie mochte Anne und hielt sie für ein vernünftiges, fleißiges Mädchen, das doch sonst nie ein derartiges Verhalten an den Tag legte! »Anne! Geht es dir gut? Was ist los, Kind?«
Anne war höchst verlegen, die Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben. Sie schüttelte den Kopf und stammelte eine Entschuldigung, als sich die königliche Gesellschaft, gefolgt von der Familie, zum Gehen wandte.
»Die Hitze, Mistress Jassy. Verzeiht mir ...«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht, was passiert ist ... Ich fühle mich so seltsam.« Schwindel überfiel sie, und sie schwankte. Jassy versuchte, Anne zu stützen, und führte sie zu einer der Bänke im
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