Der Eid der Heilerin
eingezwängt.
Während Anne hinter der Haushälterin hereilte, bemühte sie sich, so viel wie möglich von ihrer Umgebung aufzunehmen. Als Erstes fiel ihr das geschäftige Treiben im Haus auf. Von Deborah wusste sie, dass Mathew Cuttifer ein bedeutender Tuchhändler war, der sich aus eigener Kraft emporgearbeitet hatte. Nun sah sie mit eigenen Augen all die Menschen, die Besorgungen für den Herrn oder für die Mitglieder des nahe gelegenen Court of Westminster erledigten, mit dem er, wie sie wusste, gute Geschäftsbeziehungen unterhielt.
»Mädchen!«, unterbrach Jassy barsch Annes Gedanken. Von der schüchternen, unterwürfigen Dienerin, die sie vor wenigen Minuten noch gewesen war, war nichts mehr zu sehen. »Hier durch - spute dich!«
Anne betrat ein niedriges, kleines Zimmer im hinteren Teil des Hauses, der zum Fluss hinausging. Von diesem Zimmer aus regierte Jassy den Haushalt. Ein Mädchen in ihrem Alter war gerade dabei, den Boden mit frischem Binsenkraut auszulegen.
»Melly, geh und hole Aveline.« Das Mädchen ließ das Binsenbündel fallen, als ob es Feuer gefangen hätte, und huschte aus dem Zimmer. Dann erklärte die Haushälterin Anne, was von ihr erwartet wurde. »Lady Margaret, die Frau von Master Cuttifer, braucht viel Hilfe. Sie muss gewaschen, angezogen und sogar gefüttert werden. Zu unser aller Kummer bedeutet ihre Krankheit auch, dass deine Zeit hier vielleicht nicht lange währen wird. Gott gebe, sie möge uns noch lange erhalten bleiben.«
Es klopfte. Die Haushälterin rief »Ja!«, worauf eine hübsche, junge Frau zur Tür hereinschlüpfte. Sie war schlicht gekleidet und trug ein bescheidenes, dunkelblaues Hauskleid mit einem ärmellosen Überrock in einem dunklen Rot, trotzdem strahlte sie eine verwirrende Eleganz aus. War sie Master Cuttifers Tochter?
»Aveline, das ist Anne. Der Master hat sie eingestellt, damit sie dich bei Lady Margaret unterstützen kann. Du bist mir gegenüber für sie verantwortlich. Sie besitzt Fertigkeiten, die dir von Nutzen sein werden.«
Das Mädchen, das sich zu Anne umdrehte und sie mit kühlem Blick musterte, war Lady Margarets Kammerzofe - das erklärte die vornehme Kleidung und die glatten, weißen Hände. Aveline musterte Anne einen Augenblick lang, ehe sie sich wieder der Haushälterin zuwandte: »Meine Herrin hat keinen Bedarf an einer weiteren Dienerin.«
Jassy runzelte die Stirn. Sie war eine sehr beschäftigte Frau und hatte an diesem Vormittag weiß Gott wichtigere Dinge, mit denen sie sich beschäftigen musste. »Es ist der Wunsch des Masters, und damit Schluss. Nimm Anne mit und zeig ihr alles Nötige. Wir werden nach dem Abendgebet darüber sprechen.«
Aveline machte einen steifen Knicks und bedeutete Anne mit versteinerter Miene, ihr zu folgen.
Die beiden gingen durch einen dunklen Flur. Anne folgte dem starren Rücken vor ihr und verlor allen Mut. Das war kein guter Anfang, sie fühlte sich allein und hatte Angst. Sie durchquerten düstere Flure, bogen mal nach links, mal nach rechts ab, kamen an geschlossenen Türen vorbei und an Treppen, die in die oberen Stockwerke des Hauses führten. Avelines Filzpantoffeln glitten lautlos über die steinernen Fliesen. Von Anne nahm sie keinerlei Notiz.
Nach einigen Minuten gelangten sie zu einer eisenbeschlagenen Tür, die so groß war, als wäre sie für Riesen gebaut worden. Die Tür war von zwei mächtigen Säulen in der Gestalt nackter Männer eingerahmt, die den schweren Türsturz stützten. Der Abschlussstein besaß die Form einer liegenden Frau, die an ihren üppigen Brüsten einen großen Knaben säugte. Ein wollüstiger Ausdruck lag auf ihrem breiten Gesicht.
Aveline bemerkte Annes erschrockenen Blick und stieß ein kurzes, unerwartet raues Lachen aus. Dann öffnete sie die Tür. »Dies ist der älteste Teil des Hauses, Mädchen. Ein unzüchtiger Einlass in die Küche. Sieh zu Boden, wenn du hier vorbeikommst, sonst könnten die Männer etwas Falsches von dir denken.«
Als die Tür aufging, wich die Grabesstille der Flure lautem Stimmengewirr. Aveline schob das Mädchen in einen riesigen Raum.
Zuerst glaubte Anne, sie sei in einer Art Hölle gelandet, doch dann stellte sie fest, dass sie sich in einer geräumigen Küche befand, deren gewölbte Decke einer Kirche glich und die von einem steinernen Leuchter erhellt wurde, der hoch über ihr von der Spitze des Gewölbes herabhing.
Eine Unzahl kaum menschenähnlicher Gestalten lief schwitzend und fluchend durcheinander und bediente drei
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