Der Eid der Heilerin
Als die Mischung lange genug gezogen hatte, suchte das Mädchen etwas, womit sie sie auf das Gesicht ihrer Herrin auftragen konnte. Da sie sie nicht mit Fragen belästigen wollte, hob sie auf gut Glück den schweren Deckel einer Truhe und fand zu ihrer Freude ein rechteckiges Leinentuch, das ordentlich gefaltet auf einem Stapel Hemden und Unterröcken lag.
Anne tauchte eine Ecke des Tuches in das inzwischen nun lauwarme Wasser und wrang es aus. Das Tuch war so fein gewoben, dass sie es zu einem kleinen Tupfer zusammenlegen konnte. Sanft legte sie das Tuch auf das Gesicht ihrer Herrin, presste es an ihre Stirn, dann auf das eine und das andere Auge, an die Wangen und schließlich an Kinn und Hals. Lady Margarets Augen waren geschlossen, doch sie wehrte sich nicht gegen den sanften Druck des Tuches. Der Duft der Kräuter vermischte sich mit dem Aroma des Apfelholzes im Kamin, und während Anne mit ihrer Arbeit fortfuhr, nahm das Schweigen zwischen der Frau im Bett und dem Mädchen etwas Unwirkliches und zutiefst Friedliches an.
Die müden Lippen von Lady Margaret formten sich zu einem vorsichtigen Lächeln, und nach einiger Zeit hörte das Mädchen seine Herrin deutlich sagen: »Danke, Anne. Ich werde jetzt schlafen.« Bald darauf bewiesen tiefe Atemzüge, dass die Herrin eingeschlafen war. In ihrem Gesicht konnte Anne lesen, dass ihre Schmerzen ein wenig gelindert worden waren. Anne lächelte glücklich. Nun musste sie nur noch Aveline davon überzeugen, dass sie ihr die Gunst von Lady Margaret nicht streitig machen wollte. Dann würde alles gut werden.
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Kapitel 3
Es war das Fest von Mariä Geburt, ein Sonntag im vierten Jahr der Herrschaft von König Edward IV., eintausendvierhundertundfünfundsechzigjahre nach Christi Geburt. Uberall in der Stadt schallten die Kirchenglocken durch die winterliche Kälte.
Bereits seit dem Morgengrauen herrschte in Blessing House hektische Betriebsamkeit. Die Hausbewohner bereiteten sich auf ein doppeltes Fest vor, da Mariä Geburt auch der Namenstag von Mathew Cuttifer war. In diesem Jahr gab es noch einen weiteren Grund zum Feiern. Mathew Cuttifer wollte einen Dankgottesdienst für die Genesung seiner Frau stiften, die nach langer, lebensbedrohlicher Krankheit endlich gesund geworden war. Der gesamte Hausstand sollte sich zur Hohen Messe in der Westminster Abbey versammeln, und Abt Anselm würde persönlich den Gottesdienst abhalten. Im Vorraum der Kirche sollte eine Almosenspende stattfinden und danach ein Fest in Blessing House für geladene Gäste und in Anwesenheit des Königs.
Anne hatte vor Aufregung kaum geschlafen und war noch bei Dunkelheit von ihrem Lager im Sonnenzimmer aufgestanden. Im verschwenderischen Licht einer Wachskerze - die Herrin konnte den Geruch von Talglichtern nicht ertragen - nähte sie die letzten Perlen an das Gewand, das Lady Margaret an diesem Tag in der Kirche tragen würde. Aveline schlief noch in ihrem eigenen Bett. Anne schirmte das Licht ab und arbeitete lautlos. Sie genoss diese wenigen Augenblicke, die sie für sich hatte.
Das Kleid war aus tintenblauem flandrischen Samt, der Farbe des Nachthimmels. Die Ärmel waren mit glänzend weißem Damast gefüttert, der nach außen umgeschlagen war, und mit einem kostbaren, weißen Fuchspelz besetzt, den Mathew Cuttifers Kommissionär in Brügge aus Russland hatte kommen lassen. Der tiefe Ausschnitt war mit feinstem Batist unterfüttert - auch dieser schneeweiß - und mit Perlen, groß wie Weißdornbeeren, besetzt. Etwas so Schönes hatte Anne noch nie genäht, aber es hatte sie einige Mühe gekostet, Phillipa Jassy davon zu überzeugen, dass sie das kostbare Tuch eigenhändig zuschneiden und nähen durfte. Gewohnlich kamen Näherinnen ins Haus, die für den ganzen Hausstand nähten, doch Anne hatte sich von ihrer Idee nicht abbringen lassen. Dieses Kleid war der Höhepunkt all ihrer Bemühungen, die sie während der vergangenen acht Monate für Lady Margaret unternommen hatte. Es war ein Tribut an die wiedererlangte Schönheit ihrer Herrin, die Anne am besten hervorzuheben zu wissen glaubte. So arbeitete sie an diesem Morgen still vor sich hin, lauschte dem sanften Atmen ihrer Herrin und lächelte glücklich. Sie dankte Gott und Deborah, die ihr geholfen hatten, Lady Margaret wieder gesund werden zu lassen.
Kurz nach ihrer Ankunft in Blessing House war Anne zu der Ü berzeugung gelangt, dass die teuren Ärzte Lady Margaret bis zum Punkt völliger Erschöpfung zur Ader ließen. Sie
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