Der Eid der Heilerin
und still in einem riesigen, geschnitzten Bett in der Mitte des Sonnenzimmers. Ihr Körper war von der Krankheit gezeichnet. Durch ihr Schlafgewand waren deutlich die Schlüsselbeine und die Rippen zu sehen. Ihr Gesicht war ebenso blass wie die edlen Leintücher, in denen sie lag. Doch als Anne und Aveline den Raum betraten, wandte sie ihnen den Kopf zu, lächelte kurz und bedeutete Anne mit einem Winken ihrer feingliedrigen Hand näher zu treten, obwohl ihr diese winzige Bewegung augenscheinlich enorme Kraft abverlangte. Die Lady hustete und ließ ihre Hand auf die Decke zurückfallen, als das Husten zu einem Krampf umschlug. Aveline eilte zu ihr und griff nach einem kleinen, mit einer zähen Flüssigkeit gefüllten Hornbecher, den sie an Lady Margarets Lippen führte. Die Herrin nippte daran und verzog angewidert das Gesicht. Dann ließ sie sich zurücksinken, winkte Aveline fort und schloss die Augen. Als Aveline die Bettdecke glatt strich, hob Lady Margaret erneut die Hand. Aveline bedeutete Anne näher zu kommen. Die beiden Mädchen beugten sich zu ihr hinab, um zu hören, was sie sagte. »Wer ist das?«, fragte sie leise.
»Das ist Anne, Lady Margaret. Master Mathew hat entschieden, sie für eine Weile einzustellen. Sie soll mir zur Hand gehen, als Kammerjungfer.«
Lady Margaret nickte unmerklich. »Mein Mann sorgt sich viel zu viel um mich. Aveline, geh ein wenig hinaus. Die frische Luft wird dir gut tun. Lass dieses Kind so lange bei mir«, flüsterte sie mit belegter Stimme.
Aveline war von diesem Vorschlag nicht angetan, trotzdem nickte sie pflichtschuldig. Sie machte einen Knicks und gab Anne im Hinausgehen leise Anweisungen. »Sorg dafür, dass Lady Margaret alles hat, was sie braucht. Sie hat heute noch nichts gegessen. Deine wichtigste Aufgabe ist, ihr etwas zu essen zu geben, auch wenn sie nichts will. Auf der kleinen Truhe steht eine Schale mit Quark und Honig. Sieh nach dem Feuer und nutze die Zeit, wenn sie schläft. In der Kommode aus Zedernholz befinden sich die Dinge, die sie am häufigsten braucht - und im Eichenschrank am Fenster liegt ihre Wäsche. Es gibt immer etwas zu flicken. Du findest dort auch Nadel und Faden.«
Anne öffnete die Tür, die auf eine hoch über der Eingangshalle liegende Empore führte. Dann verabschiedete sie Aveline mit einem Knicks und schloss leise die Tür hinter ihr. In dem hellen Zimmer war es nun ganz still bis auf das fröhliche Prasseln des Apfelholzfeuers und das schwache Rauschen des Windes vor den Fenstern. Es war ein Tag zum Leben, nicht zum Sterben.
Anne blickte sich neugierig um. Nie zuvor hatte sie so viele edle Dinge in einem Raum gesehen. Neben dem Bett stand sogar ein Eisengestell mit einer Waschschüssel aus Messing, und auf dem Kamin befand sich ein Krug und daneben ein schwarz angelaufener Wasserkessel. Anne lächelte. Sie hatte eine Idee!
»Lady Margaret, gestattet Ihr, dass ich spreche?« Die Frau nickte schwach. »Ich habe die Zutaten für einen beruhigenden Gesichtswickel dabei. Hier in meiner Tasche.« Das Mädchen zog drei kleine Päckchen aus dem Beutel an ihrem Gürtel. »Es sind nur ein paar einfache, lieblich duftende Kräuter. Ich könnte sie für Euch zubereiten.«
Die Frau im Bett schwieg. Anne wertete das Schweigen als Zustimmung, trat zum Kaminsims - eine Neuheit, die sie noch nie zuvor gesehen hatte - und füllte den Wasserkessel bis zur Hälfte mit dem Wasser aus dem Krug. Dann hängte sie ihn an die über dem Feuer baumelnde Kette. Sorgfältig maß sie kleine Mengen der getrockneten Kräuter und Blüten ab und schüttete sie in die Messingschüssel, während sie darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde.
Anne arbeitete ganz leise. Sie musste so schnell wie möglich eine harmonische Beziehung zu Lady Margaret aufbauen, um ihre Stellung im Haus sicherzustellen. Doch ihre Herrin schien dem Tode nahe zu sein, und offenbar glaubte niemand, ihr Ehemann und Aveline eingeschlossen, dass sie noch lange leben würde. Vielleicht konnten die Kenntnisse, die Deborah ihr mitgegeben hatte, sie eines Besseren belehren.
Als das Wasser kochte, brühte das Mädchen die Blätter und Blüten in der Messingschüssel auf. Dann zog sie ein Erlenstöckchen aus ihrer Tasche und rührte die dampfende Flüssigkeit vorsichtig zuerst sieben Mal in Richtung Sonne, dann sieben Mal in die entgegengesetzte Richtung. Die Lady beobachtete diese Verrichtung mit leiser Neugier - und einem schwachen Lächeln angesichts des ernsten Ausdrucks auf Annes Gesicht.
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