Der Eid der Kreuzritterin - Jordan, R: Eid der Kreuzritterin
wirkte.
»Wir reisen morgen früh, gleich nach den Laudes. Um die Mittagsstunde sollten wir in Mainz sein.«
Konstanze war wie betäubt, als sie ihrer Mentorin weisungsgemäß in die Klosterapotheke folgte. Sie hatte Peterchen nicht verraten. Aber natürlich konnte sie eine Vision vortäuschen und die Geschichte später erzählen. Konstanze fragte sich nur, wem mit einer solchen Enthüllung gedient war. Sie selbst würde ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten – womöglich zog man ihre Weihe vor! Diesen Nikolaus würde man zu seinen Erlebnissen befragen – viel genauer als bisher und womöglich hochnotpeinlich, wenn er in den Verdacht geriete, mit dem Satan gemeinsame Sache zu machen. Immerhin würde der Kreuzzug aufgehalten – und damit die Flucht der Zisterziensernovizen vereitelt. Und … ihre eigene?
Seit Konstanze von Mainz gehört hatte, rasten ihre Gedanken. Zwanzigtausend Kinder und Heranwachsende! Niemand würde sie finden, wenn sie sich einfach unter die Menge mischte. Und nicht einmal Gott könnte ihr zürnen. Zumindest wenn er es tatsächlich war, der zu diesem Kreuzzug aufgerufen hatte. Dann war es sogar ihre Pflicht, sich anzuschließen! Jerusalem zu befreien musste wichtiger sein, als die Krankenstation in einem hessischen Kloster zu leiten!
Konstanze schaffte es fast, sich das einzureden. Auf jeden Fall klopfte ihr Herz heftig, während sie Maria jetzt half,Arzneien gegen Fieber und Durchfall sowie Pflaster und Kompressen zur Versorgung von Wunden zusammenzusuchen. Maria selbst unterbrach ihre Grübeleien dabei nicht. Sie blieb still, was ungewöhnlich war. Konstanze hätte eigentlich erwartet, dass die Schwester Medica ihre Meinung zum Kinderkreuzzug von sich gab.
Maria wandte sich aber erst mit persönlichen Worten an ihre Schülerin, als sie das Mädchen nach dem letzten Gebet des Tages ins Dormitorium der Novizinnen schickte.
»Schlaf gut, mein Kind!«, sagte sie sanft und tat etwas, das sie bisher nie getan hatte. Sie küsste das Mädchen auf die Wange. »Und entscheide dich richtig!«
Konstanze errötete. Las diese Nonne ihre Gedanken?
Tatsächlich schlief sie natürlich nicht gut, sondern wälzte sich auf der harten Lagerstatt hin und her. Auf der Reise ins Heilige Land konnte sie auch nicht unbequemer ruhen … Konstanzes Entscheidung war längst getroffen.
Schwester Maria schien das durchaus zu wissen, als sie ihr Häuflein verschlafener Helferinnen vor der Abfahrt sammelte und jeder ein Bündel mit Arzneien übergab.
»Ihr wisst alle, wie man sie anwendet, es sollte reichen, die meisten Blessuren zu behandeln. Kompliziertere Fälle verweist ihr an mich oder Schwester Konstanze«, beschied sie die fünf anderen Nonnen, die man wohl mehr unter dem Gesichtspunkt ihrer Glaubensfestigkeit als ihrer medizinischen Kenntnisse ausgewählt hatte.
Konstanze selbst erhielt ein üppiger gefülltes Bündel – das obendrein schwerer wog als die anderen. Auf dem Weg zum Wagen nutzte sie das Licht einer Fackel, um kurz hineinzuspähen. Das Blut schoss ihr ins Gesicht.
Oben auf den Heilkräutern lag das Buch mit den orientalischen Gedichten. Ein Abschiedsgeschenk.
Der Morgen graute gerade erst, als der schwere, ungefederte Wagen, vollgeladen mit Almosen für die Kreuzfahrer undsieben Benediktinerinnen, die nun gründlich wachgerüttelt wurden, am Rhein entlangfuhr. Die Äbtissin ritt auf einem Zelter nebenher. Konstanze spähte unternehmungslustig hinaus auf den silbrig glänzenden Fluss und die schemenhaften Schatten, die Bäume, Felsen und Sträucher zunächst im letzten Mondlicht und dann im Morgenrot warfen. So viele Jahre lang war sie jede Nacht auf den Beinen gewesen – aber die Schönheit der Welt war hinter Klostermauern verborgen geblieben.
Zu so früher Stunde waren auf den Straßen rund um Bingen kaum Reisende unterwegs – und Konstanze war umso verwunderter, als sie eine kleine Gestalt im Zwielicht erkannte, die sich in Richtung Mainz schleppte. Sie wirkte, als trüge sie die Last der ganzen Welt in ihrem armseligen Bündel, und Konstanze dauerte sie. Doch dann kamen sie näher heran, und das Mädchen erkannte seinen kleinen Freund Peter.
»Anhalten!«, befahl Konstanze. Ihre Stimme klang so alarmiert, dass der Kutscher, ein Knecht aus den Vorwerken des Klosters, tatsächlich auf die Novizin hörte. Konstanze sprang vom Wagen, als die Pferde zum Stehen kamen.
»Peterchen! Peterchen, wo um Himmels willen willst du hin ohne deine Schafe?«
Der kleine Junge wandte ihr
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