Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
sich das Gefühl ein, das ihn nun schon seit einigen Tagen verfolgt – dass er zwar nicht weiß, wie der Vater gelebt hat, er ihn für einen rücksichtslosen Idioten hält, auf den er umso wütender ist, je mehr er über ihn nachdenkt, aber dass ihn dessen Leben anzieht, es darin etwas gibt, das ihn bewegt.
Es ist gegen elf, als Daniel in die Küche kommt, wo Steffen mit verquollenen Augen am Frühstückstisch sitzt. Danielhat lange geschlafen, nachdem er lange gar nicht geschlafen hat, sich bis drei Uhr morgens im Bett gewälzt und über das Leben des Vaters nachgedacht, sich über die Fotos des Vaters den Kopf zerbrochen hat. Er setzt sich, schenkt sich ein Glas Orangensaft aus dem Tetrapak ein, stürzt es in einem Zug hinunter und weiß dann, dass er auch an diesem Tag weder ins Krankenhaus noch in die Universität fahren, er den Linguistikkurs zum dritten Mal in Folge ausfallen lassen wird. Am Ende wird er das Semester abschreiben können und ein Bafög-Problem haben, ein weiteres Problem, das er nicht hätte, wenn er Reihenhauseltern hätte wie Steffen: dreißig Jahre zusammen, dreißig Jahre unheilvolle Zwangsgemeinschaft.
Ich war in der Wohnung meines Vaters, setzt er schließlich an.
Steffen nickt stumm, geht zur Espressomaschine und schaufelt Pulver in den Filter. Bei Daniel zu Hause war Espresso unbekannt, Conny trinkt Filterkaffee, doch Steffen behauptet, dass Kaffee nur als Espresso genießbar sei, es in Deutschland keine Kaffeekultur gebe, ganz allgemein Kultur erst über die Italienurlaube der Reihenhausfamilien nach Deutschland gelangt sei.
Das ist eine super Wohnung, fügt Daniel hinzu, ein Zögern und dann: Mein Vater will, dass ich da einziehe.
Mein Vater.
Die Espressomaschine haben Steffens Eltern vor zwei Jahren als Aboprämie bekommen und an den Sohn weitergegeben. Das An- und Abbestellen von Zeitschriften sei zum lukrativsten Volkssport in Deutschland geworden, hatte Steffens Vater das Schnäppchen stolz kommentiert.
Daniel erklärt, dass Fil einen Brief zurückgelassen habe – erdenkt: wie sich das anhört, zurückgelassen , als wäre er verreist –, dass die Wohnung sehr billig und gut gelegen sei, dass Fil, selbst wenn alles gut laufe, noch lang im Krankenhaus und auf Reha sein werde und er, Daniel, doch nie in Friedrichshain wohnen wollte.
Steffen sieht offenbar ein, dass er mit dem Freund jetzt nicht diskutieren kann, Daniel andere Probleme hat, sein Vater todkrank ist. Also sagt er, ein wenig resigniert: Wenn du ausziehen willst, mach das. Ich kann das verstehen, kein Problem.
So meine er das nicht, entgegnet Daniel. Sie könnten beide dort einziehen, die Wohnung sei groß, groß genug sogar für drei.
Schon wieder umziehen?
Daniel lacht auf, lässt demonstrativ den Blick schweifen. Zwei Matratzen, ein paar Klappstühle, der Esstisch, den man auch im Hausflur stehen lassen könnte, ein IKEA -Küchenschrank.
Dass die Wohnung heller als ihre und ziemlich gut eingerichtet sei, fügt er hinzu, dass sie nur 450 zahlen würden, warm, 150 weniger als jetzt.
Er sieht, dass Steffen rechnet. Ein Schnäppchenjäger wie sein Reihenhausvater.
Dass Fil die Miete bezahlt, behält Daniel für sich. Die 225 Euro von Steffen kann er gut brauchen. Immerhin ist es sein Vater, der im Augenblick stirbt.
Wenn Steffen Lust habe, könnten sie nach dem Frühstück vorbeigehen.
Eine möblierte Wohnung, erwidert der Freund, das gebe es doch sonst nur in Italien.
Und Daniel dachte, Italien sei die Wiege der Kultur.
Was Essen und Architektur betrifft, vielleicht.
Fils Wohnung liege direkt am Kanal. Dreiländereck, Neuköllner Seite, nur zehn Minuten vom Görlitzer Park.
Da gibt's auf jeden Fall mehr Orte zum Gras-Kaufen.
Da gibt's vor allem mehr Kneipen.
Und Türken.
Bei euch in der Reihenhaussiedlung kennt man die ja nur aus dem Fernsehen.
Oder aus dem Urlaub.
Sie lachen.
Doch obwohl sie noch am gleichen Tag beschließen, auszuziehen und einen Nachmieter für ihre Wohnung zu suchen, zögert Daniel, ein zweites Mal zu Beule zu gehen, um Bescheid zu geben – als handele es sich um eine unumkehrbare Entscheidung, als widerstrebe es ihm, dem Vater so nahe zu kommen, als halte ihn eine unbestimmte Furcht davon ab.
Als er sich schließlich einige Tage später doch auf den Weg macht, fällt ihm jeder Schritt schwer, die Füße sind wie bleibeschwert, nutzt er jede Gelegenheit, um stehen zu bleiben und das Zusammentreffen hinauszuzögern; er schaut sich in einem Fotogeschäft neue
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