Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
erzählt vom Essen, dem Citroen DS , den die französischen Gastgeber gefahren seien, von ihrer Musik, Soul, Calypso, Ska aus den Sechzigern, und Daniel denkt: Fils CD -Sammlung, die digitalisiert-knackenden Singles. Sie haben mir die Welt eröffnet, fährt Beule fort, und sein sonst eher ausdrucksloses Gesicht hellt sich weiter auf, die Bilder reißen ihn mit, er schwelgt in Erinnerungen: dass er in den Erntemonaten in einer Genossenschaft gejobbt habe, langer Mai, sagt er, die Kooperative habe langer Mai geheißen, dass er in Naturalien ausgezahlt worden sei, Wein, Käse, Salami, Olivenöl, so gut habe er danach nie wieder gegessen, er sei ansonsten kein Landei, aber an diese Monate denke er gern, diese Leute seien Freaks, alle ein bisschen schrullig gewesen, aber sehr nett, und verstummt dann, lehnt sich zurück.
Fil sei der Einzige in Berlin gewesen, der gewusst habe, wo er steckte. Dreimal im Jahr habe er Briefe und Geld gebracht, vier Jahre hätten sie ihn durchgefüttert.
Damit du sie nicht verpfeifst? fragt Daniel.
Damit ich nicht in den Bau gehe, erwidert Beule. In Marseille sei es nicht einfach gewesen, Geld zu verdienen, ohne Papiere schon gar nicht. Doch irgendwann habe sich herausgestellt, dass sich der Wachmann an nichts erinnerte, es sei nie ein Verfahren eröffnet worden.
Und dann kamst du zurück? stellt Daniel die gewünschteFrage, und Beule nickt: '88, es hieß, er habe das Beste verpasst, den Reagan-Besuch, die 750-Jahrfeier von Berlin, das alles soll ein großer Spaß gewesen sein, ein kurzer Sommer der Anarchie, die Kämpfe um die Hafenstraße, sogar die Jusos hätten eine Barrikade gehabt, Rosa-Luxemburg-Barrikade, selbst die Jusos und die Grünen seien bereit gewesen, die besetzte Hafenstraße gegen eine Räumung zu verteidigen, verrückte Zeiten, Beule schüttet sich sein Schnapsglas ein drittes Mal voll und klopft auf den Tisch.
Es ist zehn, aber der Abendhimmel schimmert immer noch violett. Zehn Tage sind seit der Sonnenwende vergangen, seit der kürzesten Nacht des Jahres, aber erst jetzt, wo die Wolkendecke aufgebrochen ist, merkt man, wie lang die Tage geworden sind.
Man fragt sich, was in seinem Gehirn los ist, beginnt Daniel plötzlich vom Vater zu reden, wechselt unversehens das Thema, ob in so einem Gehirn überhaupt etwas los oder ob es wie eingefroren ist. Und dann:
Von was hat Fil die ganzen Jahre eigentlich gelebt?
Ein unbestimmtes Achselzucken, das alles bedeuten kann – Arbeitslosenhilfe, Bafög, Jobs, Versicherungsbetrug, eine Erbschaft …
Dass Fil seit ein paar Jahren Buchhaltung mache, wisse Daniel aber?
Nein, wusste er nicht.
In einem Handwerksbetrieb. Gas, Wasser, Scheiße; ein selbstverwalteter Laden.
Das Gespräch bricht ab. Der Straßenlärm zurrt zu einem Hintergrundrauschen zusammen, das sich auf dem Weg Richtung Cortex verflüchtigt. Durch das offene Fenster streicht der Geruch von Lindenblüten und Ozon, ein feiner,schwitziger Film Luft legt sich auf die Haut. Daniels Blick fällt auf das Schnapsglas, hinter dem Beules Hand auf dem Tisch liegt wie ein krankes, träges Reptil. Und Daniel fragt sich, was der Vater erzählen würde, wenn er aus dem Koma aufwachte, ob er dann – noch einmal davongekommen – wieder Anekdoten zum Besten geben oder versuchen würde, sich und dieses seltsame Leben zu erklären.
Dein Vater ist ein guter Typ, sagt Beule, als wolle er das Thema beenden, und das Reptil beginnt die nächste Zigarette zu drehen.
III
Im Zug, zwei Tage später: Es ist heiß, hochsommerlich heiß. Bundeswehrsoldaten, Fußballfans auf dem Weg zu einem Auswärtsspiel, Familien mit Kleinkindern. Zwei Akademiker sitzen eingeklemmt zwischen Schalensitz und Coffee-to-go an ihren Laptops und tun, als würden sie Texte redigieren. Man trägt T-Shirts, Hawaiihemden, Träger-Tops. Gelegentlich schiebt sich ein Schaffner – sächselnd, kleiner Diamantstecker im Ohrläppchen, leicht schwule Ausstrahlung – durch den Gang und fragt nach den Fahrscheinen. Daniel schließt die Augen und versucht zu verstehen, was er gerade gelesen hat.
Ich (wer, »ich«? das ist genau die Frage, die alte Frage: wer ist dieses aussagende Subjekt, das dem Ausgesagten stets fremd bleibt und zwangsläufig als Eindringling erscheint) – ich also habe vor bald zehn Jahren das Herz eines anderen erhalten. Man hat es mir eingepflanzt. Mein eigenes Herz war unbrauchbar geworden, aus einem Grund, der nie geklärt wurde. Um leben zu können, musste ich das Herz eines anderen
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