Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
schatten
durch die dunkelheit
An diesem Abend gehen sie zu ihm, gehen sie zu Fil, überqueren die stillgelegte Eisenbahnbrücke, die nach Osten über den Kanal führt, kommen am Bauwagenplatz vorbei, an dem es nach Holzkohlenglut riecht, Funken in den Nachthimmel stieben, laufen am Ufer entlang auf den Spielplatz zu, den Weichselplatz, an dem drei Bezirke aufeinander stoßen, den die Anwohner ohne jeden Anflug von Selbstironie das Dreiländereck nennen. Die Häuser liegen dunkel da, es sind kaum noch Passanten auf den Straßen, obwohl es nach wie vor warm ist, die für den Abend angekündigte Schlechtwetterfront noch auf sich warten lässt, und obgleich Dem bislang kein Interesse signalisiert hat, die Nacht bei Daniel zu verbringen, folgt sie ihm, als er das Haustor aufschließt, wie willenlos die Treppe hinauf.
Sie lässt sich kurz die Wohnung zeigen, gibt zu, dass die Einrichtung einem weniger schwer aufs Gemüt schlägt als bei der Tante, bleibt ansonsten aber wortkarg, so dass Daniel auch diesmal nicht von Fil und dessen Krankheit zu erzählen beginnt, nur erwähnt, dass er bloß Untermieter ist, die Wohnung für ein paar Monate übernommen hat, ihr vorschlägt, dass sie doch ein paar Wochen bei ihm wohnen könnte, es gebe genug Platz, sie könnten mehr Zeit miteinander verbringen. Dem antwortet nicht, mustert stumm die Küche, und weil sich eine unangenehme Stille breitmacht, eine seltsame Distanz entsteht, geht er schließlich ins Bad. Als er zurückkommt, geduscht, abgetrocknet ins Schlafzimmer tritt, schläft sie bereits oder tut, als würde sie schlafen, und er fragt sich, ob er etwas falsch, was er falsch gemacht hat.
Am nächsten Morgen ist das Bett neben ihm leer, aber zunächst glaubt er noch, sie sei in der Dusche, und freut sich aufs Frühstück, auf den ersten Morgen, den sie zusammen miteinander verbringen, weil Dem am Abend angekündigt hat, an diesem Tag nicht arbeiten zu müssen. Doch als er in die Hose geschlüpft ist, den Gang hinuntergeht, die Badezimmertür offen stehen sieht, als er Dem auch in der Küche nicht antrifft, durch die restlichen Zimmer gelaufen ist und festgestellt hat, dass ihre Tasche und Jacke nicht mehr da sind, spürt er plötzlich, wie ihn Panik erfasst. Er läuft auf den Balkon, der Himmel ist zugezogen und grau, schautdie Straßen hinunter, in alle Richtungen gleichzeitig, denkt, sie könnte den Bäcker an der Straßenecke entdeckt und Brötchen kaufen gegangen sein, könnte die Jacke mitgenommen haben, weil es schlagartig kühl geworden ist, die Tasche, weil sie ihr Portemonnaie braucht. Aber als er auf dem Handy anruft und feststellt, dass es abgeschaltet ist, ist er sich sicher, dass etwas nicht stimmt, und beginnt, nervös zwischen Küche und Balkon hin- und herzulaufen, zwischen Gegensprechanlage und Blick auf die Straße.
Sie kommt nicht zurück, er wartet fünf, zehn, zwanzig Minuten, ruft immer wieder auf dem Handy an, hört immer wieder nur den Satz, dass der Teilnehmer zur Zeit leider nicht zu erreichen sei, startet den Laptop, um in den Mails nachzuschauen, sucht einen Zettel, fragt sich, warum sie keinen Zettel dagelassen hat, beginnt die Wohnung systematisch nach einer Nachricht, einer heruntergefallenen Notiz zu durchsuchen, einem Hinweis, der erklären könnte, was an diesem Morgen vorgefallen ist. Sie hat nicht gefrühstückt, rekonstruiert er, nicht geduscht: Der Küchentisch ist aufgeräumt, die Kaffeekanne leer, das Handtuch im Bad unbenutzt, als wäre sie direkt aufgestanden und gegangen. Nach einer Weile, einer weiteren Viertelstunde findet er in Fils Zimmer dann endlich eine Erklärung, glaubt er, eine Erklärung zu finden. Die Schublade von Fils Schreibtisch steht offen, der Pass des Vaters liegt obenauf, ein paar Unterlagen sehen verrutscht aus. Sie könnte, denkt er, sie hat sich in Fils Zimmer umgeschaut, die offenstehende Schublade entdeckt, ist auf den Pass gestoßen, hat begriffen, wessen Sohn er ist, hat sich daran erinnert, wie es mit Ela war, wollte nicht daran erinnert werden, hat damals vielleicht auch mit Fil zu tun gehabt, begann Daniel anders zusehen, ist erst mal rausgegangen, um nachzudenken – das wäre plausibel.
Ich hätte es ahnen können, murmelt er, ich hätte wissen können, dass sie den Vater kennt.
Kennt sie den Vater?
Warum wollte er nicht wissen, ob sie den Vater kennt?
Weil ich für sie nicht Fils Sohn sein wollte? Nicht wollte, dass sich sein Leben über meines legt?
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