Der eine Kuss von dir
Karten im Vorverkauf rausgegangen.«
Robert, Tom und Milo wechseln verwunderte Blicke. Das ist schon was. Verglichen mit dem Gig gestern, könnte das ein Karrieresprungbrett sein.
Freddie freut sich und möchte, dass wir uns mit ihm freuen. Er drückt jedem von uns die Hand und lächelt dabei breit, dann verteilt er Getränkemarken für später. Die Band lässt sich aufs Sofa fallen und ich packe meine Ka mera wieder aus. Ich stelle mich in eine Ecke des Raums, ein wenig weiter weg von allem, und suche nach schönen Bildern.
REC . Kurz draufhalten. STAND-BY . Wieder Ausschau halten.
REC . Milo reibt sich die Schläfen.
Robert trommelt mit den Händen auf seinen Oberschenkeln.
Tom tigert aufgeregt durch den Raum.
Linda schiebt sich Haarsträhnen durch Perlen.
Dan philosophiert mit Freddie über Nirvana und Tocotronic. Schnee von gestern.
Edgar schreibt eine SMS .
Zigaretten werden angezündet.
STAND-BY .
Es herrscht aufgeregte, aber ruhige, ein wenig ehrfürchtige Stimmung.
Hundert vorverkaufte Karten können einem durchaus Angst machen.
Ich stecke die Kamera in die Tasche und gehe raus auf den Flur, um meine Eltern anzurufen.
»Mein Gott, Frieda! Ich dachte, noch ein bisschen und ich rufe die Polizei!« Mein Vater übertreibt gerne mal.
»Hey, ich bin doch erst seit gestern weg!«, protestiere ich und muss innerlich grinsen über meine Eltern, die es in letzter Zeit nicht leicht mit mir hatten.
Sie waren dagegen, dass ich auf Tour gehe, mit, wie sie sagten, »potenziellen Drogenabhängigen«. Sie waren über haupt dagegen, dass ich jetzt in dieser Musiksache mit mische. »Musik ist schön«, sagte mein Vater, »aus dem Radio!«
Ich lag ihnen in den Ohren, immer und immer wieder. Ich weinte, ich argumentierte, ich schmollte, ich sammelte neue Argumente, ich drohte, ich versprach und ich klopfte sie schließlich weich. Ich musste Papa schwören, keine Drogen anzufassen, und ich musste Mama versichern, keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr mit irgendwelchen dahergelaufenen Typen zu haben, sowieso am besten überhaupt gar keinen Sex. Papa rannte panisch aus dem Zimmer, als es um Sex ging. Er rief, ihm fiele ein, dass er noch Brot kaufen müsse, und weg war er. Schrecklich peinlich das Ganze.
»Was hast du heute gegessen?«, fragt Papa.
»Ähm … Salat mit Schafskäse.«
»Mama macht sich schreckliche Sorgen. Und wer muss das ausbaden? Hm? Ich natürlich!«
»Das tut mir leid, wirklich. Aber ihr wolltet Kinder haben. Ich schätze, das gehört dazu.«
»Jetzt wird sie auch noch frech!«, lacht mein Vater und reicht den Hörer an meine Mutter weiter.
»Er lügt. Ich mache mir gar keine Sorgen. Er liegt schlaflos im Bett, er ganz allein.« Sie versucht, gelassen zu klingen, aber ich weiß, dass sie sich sehr wohl auch Sorgen macht.
»Sind sie nett zu dir?«, fragt sie.
»Wer?«
»Alle!«
»Ja, alle sind nett zu mir«, beruhige ich sie.
»Falls nicht, rufst du an, und wir holen dich ab.«
»Ich bin nicht im Ferienlager!«
»Ich wünschte, du wärst es.« Sie atmet schwer aus.
Dann schmatzen sie abwechselnd ins Telefon, schicken Küsschen durch den Hörer.
»Ich meld mich bald wieder«, verspreche ich, küsse zurück und lege auf.
Ich schlendere durch die Flure des Jugendclubs, schaue in die Räume rein. Da ist eine Bastelstube mit anliegen der Holzwerkstatt, eine Kuschelecke mit gemütlichen Sofas und Sitzkissen, ein Bewegungsraum mit Tischtennisplatte und Billardtisch und schließlich der riesige Veranstaltungssaal. Die Bühne ist groß, aus schwarz angestrichenem Holz. Ich gehe ehrfürchtig die kleine Treppe rauf, laufe auf der Bühne auf und ab. Meine Schritte hallen durch den Raum. Ich drehe und verbeuge mich. Mein imaginäres Publikum klatscht. Das muss ein großartiges Gefühl sein, wenn man von hier oben auf Hunderte Menschen runterschauen kann.
»Möchtest du gerne unsere Vorband sein?« Milo hat sich in den Saal geschlichen. Schwer zu sagen, wie lange er mich schon beobachtet. Einen Moment stehen wir nur da und sehen uns an.
»Keine Sorge, der Ruhm ist dein«, entgegne ich, seine plötzliche Anwesenheit macht mich aber nervös.
»Filmmädchen«, flüstert er und springt gekonnt auf die Bühne, setzt sich hin und tippt mit der Hand auf den Platz neben sich.
Ich bleibe stehen, verschränke die Arme vor der Brust und ziehe die Augenbrauen hoch.
Er tippt noch einmal neben sich. »Oder muss ich dich holen?«, grinst er.
Okay. Ein Spiel. Kräftemessen. Schlagfertigkeiten
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