Der eine Kuss von dir
und verschwindet in der Ecke. Es vergehen ein paar Sekunden. Die Mädchen im Publikum tuscheln und kichern, die Typen ziehen Stirnfalten. Und schließlich kommt Milo, der Applaus schwillt an, es wird gekreischt. Er stellt sich in die Mitte der Bühne, lässt die Begeisterung über sich ergehen, lächelt breit. Dann greift er verwegen das Mikro: »Welcome Brandenburg City!!!«
Kein Anzeichen von Nervosität mehr. Er wirkt wie ein richtiger Profi, nimmt die Gitarre aus ihrem Ständer, fährt über die Saiten, legt sich den braunen abgenutzten Ledergurt routiniert über die Schulter und schließt die Gitarre an den Verstärker an.
»Der erste Song, heute für euch: Guitar Hero! One, two, one, two, three, four!«
Noch einmal wilder Applaus.
Ich stehe in der ersten Reihe. Etwas seitlich habe ich meine Kamera heute auf einem Stativ aufgebaut, ich möchte das komplette Konzert aufnehmen, einmal ohne Gewackel. Ich probiere hin und her, bis ich einen guten Bildausschnitt habe, dann drücke ich Play und überlasse die Kamera sich selbst. Ich stehe allerdings schützend davor, denn es herrscht Gedränge so nah an der Bühne.
»Der ist sooo toll, das ist einfach unglaublich!!!«, schreit das Mädchen neben mir ihrer Freundin ins Ohr.
»Meinst du, die kommen nach dem Konzert raus?!«, fragt die andere mit glänzenden Augen.
»Ich hoffe es! Aber dann schwöre ich dir, ich werde ihn ansprechen, egal was passiert! Ich habe bei Facebook Bilder von dem gesehen, die sind unglaublich sexy!«
»Die habe ich auch gesehen! Das eine, wo er vor dieser Grafittiwand steht … der Blick alleine!«
Linda schiebt sich zwischen mich und die Mädchen und verdreht die Augen. »Meine Güte, diese Groupies sind echt so naiv und blöd, findest du nicht?« Sie stellt die Frage an mich, sieht aber dabei die beiden Mädchen an und grinst ihnen verächtlich ins Gesicht.
Den Mädchen fällt nichts ein, was sie kontern könnten, sie treten aber ein Stück von uns weg.
Ich muss schon sagen, dass ich Linda für ihre direkte Art bewundere. Vielleicht ist sie ein bisschen gemein, aber im Grunde ist es genau das, was ich eigentlich auch denke, mich aber nie trauen würde, jemandem so ins Gesicht zu sagen. Bei Linda weiß man wenigsten, woran man ist. Entweder sie mag einen oder eben nicht. Mich mag sie, das merke ich, und fühle mich deshalb gleich umso hinterhältiger wegen dem Kuss vorhin.
Aber … ich habe doch eigentlich nichts gemacht. Nein, habe ich wirklich nicht! Warum soll ich mich also schlecht fühlen, wegen einer Sache, die im Grunde nur Milo zu verantworten hat.
Ich sehe zu ihm auf die Bühne.
Was mich wirklich verrückt macht, sind diese Hände, seine Finger, die die Gitarrensaiten anschlagen. Auf dieser Hand treten die Adern hervor, spannen sich an, verschwinden wieder. Die schwarzen Lederarmbänder hängen locker um sein Handgelenk und um seinen Ringfinger trägt er einen einfachen Silberring, der ab und zu im Scheinwerferlicht aufblitzt.
Wenn ich mich recht erinnere, hat diese Hand meinen Hinterkopf umfasst, als er mich küsste …
Oh Gott! Ich muss damit aufhören!
Ich fummle nun doch wieder an meiner Kamera herum, nur um keinen Blickkontakt mit Linda herstellen zu müssen. Ich bin eben durch und durch ein Feigling.
Ich probiere ein paar Effekte aus. Sepia sieht immer gut aus. Die Welt in eine andere, coolere Zeit getaucht.
Die Groupies versuchen, sich wieder in gute Position zu bringen, und drängen sich vor Linda, offensichtlich haben sie genug Mut gesammelt, um sich ihren Anfeindungen zu stellen. Aber da haben sie Linda unterschätzt. Sie drängt sich wieder an ihnen vorbei und schubst sie beiseite.
»Hey!«, ruft die eine und schüttelt ungläubig den Kopf.
»Was, hey?«, motzt Linda mit wütendem Blick zurück.
»Wir standen da«, versucht das Mädchen mit den Locken, wird aber schon wieder kleinlauter.
»Jetzt nicht mehr!«, zischt Linda und pustet ihnen Rauch ins Gesicht.
Die beiden verziehen sich nun endgültig, lassen es sich aber nicht nehmen, mit dem nötigen Sicherheitsabstand noch ihre Mittelfinger zu zeigen. Linda lacht amüsiert und ungerührt.
Linda ist heftig. Wirklich. Ich glaube, es macht ihr Spaß, mit Aggressionen zu spielen.
Zwischen all den Hippieklamotten und den Perlen im Haar steckt ganz viel Wut.
Ich bin mir nur nicht sicher worauf.
Aber würde sie wissen, dass Milos und meine Lippen heute für eine kleine Weile zusammengeklebt sind, dann wäre das »worauf« keine Frage mehr.
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