Der einsame Baum - Covenant 05
daß mir an diesem Anblick nichts entgehe, ganz und gar ohne Fehl und Tadel, schön nach der Art der Riesen. Er war ich, so wie selbst meine liebe Seidensommer Glanzlicht mich in ihrem Mitgefühl wohl haben mögen wollte. Wer hätte einen solchen Riesen nicht geliebt oder ihn begehrt? Auserwählte ...« Pechnase betrachtete Linden mit klarem Blick. »Dieser Anblick war für mich voller Pein. Schon vielerlei hatte ich in meinem Leben gelernt, aber niemals, mich anzuschauen und meine Häßlichkeit zu beklagen. Bei meiner Geburt war durch das Schicksal ein Scherz mit mir getrieben worden – ein Scherz, dessen Grausamkeit mir Starkin nun enthüllte.« Linden verspürte eine heftige Aufwallung von Weh. Nur die schlichte Friedlichkeit von Pechnases Ton und Augen machte es ihr möglich, ihre Entrüstung zu bändigen. Wie hatte er das nur ausgehalten? »Das war eine Prüfung«, sagte Pechnase wie in Beantwortung dieser Frage, »die mich bis in die Tiefen meines Herzens erforschte. Doch zu guter Letzt erkannte ich das Wahre. Wiewohl ich vor mir selbst stand, mich in aller Schönheit erblickte, nach der's mich hätte gelüsten können, war's nicht ich, der dort stand, sondern Starkin. Dieser Riese war unverkennbar ein anderer als ich, denn seine Augen vermochte Starkin nicht zu verändern – er hatte goldene Augen, die leuchteten, aber dem, was sie schauten, keine Herzenswärme spendeten. Meine Augen blieben meine Augen. Starkin konnte sich selbst nicht so wie ich mich betrachten. Auf diese Weise bestand ich schadlos die Prüfung, die er für mich ersonnen hatte.«
Linden musterte ihn mit schmerzlichem Mitgefühl und sah ihm an, daß er die Wahrheit sagte. Die Prüfung hatte ihm Pein bereitet, aber er war dazu imstande gewesen, sie ohne Folgen durchzustehen. Und seine Eigenschaft der Unerschütterlichkeit vermittelte Linden eine gewisse innere Festigkeit, ermöglichte es ihr, jenseits ihres Ärgers den wesentlichen Punkt seines Berichts zu erkennen. Er versuchte ihr seine Auffassung zu erläutern, daß die Elohim nur das sein konnten, was sie waren, und sonst nichts – daß jede Macht durch ihre Natur abgegrenzt war und damit auch begrenzt. Keine Macht konnte die Regeln sprengen, die ihre Existenz gewährleisteten. Lindens Groll ließ nach, während sie Pechnases Gedankengängen folgte. Wirklich keine Macht? lautete die Frage, die sie Pechnase gerne gestellt hätte. Nicht einmal wilde Magie? Covenant schien zu buchstäblich allem fähig zu sein. Welche vorstellbaren Grenzen konnte sein weißes Feuer haben? War etwas denkbar, wodurch es Foul letztendlich doch gelingen mochte, ihn zur Hilflosigkeit zu verurteilen? Die Notwendigkeit der Freiheit , dachte Linden. Falls er tatsächlich seine Seele verkauft hat ... Doch als sie ihre Frage in Worte zu kleiden versuchte, stellte ihr Gefühl der Beunruhigung sich in ganzer Stärke wieder ein. Es drängte sich ihrem Pulsschlag auf; plötzlich begann das Blut ihr in den Schläfen zu pochen. Irgend etwas war geschehen. Anspannung krampfte ihr in beklemmendem Maße die Brust zusammen, während sie unsicher ihre sinnliche Wahrnehmung ausdehnte. »Um Vergebung, Auserwählte«, sagte Pechnase gequält. »Ich sehe, meine Geschichte hat deinen Mut nicht gehoben.«
Linden schüttelte den Kopf. »Das hat damit nichts zu tun.« Die Entgegnung kam aus ihrem Mund, ehe sie wußte, was sie sagte. »Wo ist Hohl?« Der Dämondim-Abkömmling war fort. Sein Platz nahe der Reling war leer. »Was ist mit ihm?«
»Darauf weiß ich schwerlich Auskunft zu geben«, erwiderte Pechnase, angesichts ihrer Reaktion verdutzt. »Ein Weilchen nach Sonnenaufgang strebte er bugwärts, als habe irgendein Zweck ihn zum Leben erweckt. Zum Fockmast ist er gegangen, und ihn hat er mit einer Verbeugung und einem Lächeln begrüßt, dessen ich nur ungern gedenke. Danach jedoch ist er wieder in seine altgewohnte Reglosigkeit versunken. Er steht noch immer am Fockmast. Hätte er sich gerührt, sicherlich wären wir von jenen, die ihn beobachten, davon in Kenntnis gesetzt worden.«
»Das ist richtig«, bemerkte Cail. »Ceer wacht über ihn.«
»Das ist doch wohl ein Witz«, meinte Linden gedämpft und erhob sich. »Das muß ich gesehen haben!« Pechnase schloß sich ihr an, als sie die Richtung zum Wohlspeishaus und Vordeck nahm. Dort sah sie Hohl genau so, wie von Pechnase beschrieben: er stand eine Armlänge von der gekrümmten Fläche des Mastbaums entfernt. Seine Haltung war die gleiche wie immer: die Ellbogen an den
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