Der einsame Baum - Covenant 05
funktioniert; er war sich der Gefahr bewußt, begriff das Schicksal seiner Gefährten, besaß darüber Klarheit, was er zu tun hatte. Trotzdem war sein gewohntes Empfindungsvermögen noch nicht in vollem Umfang wiederhergestellt. Der Abstand zwischen äußeren Vorgängen und ihren Eindrücken, zwischen Wahrnehmung und Reaktionen verringerte sich nur langsam. Durch den von Linden geschaffenen Kontakt quoll in ihm neue Bewußtheit auf; aber der Abgrund zwischen ihm und der Außenwelt war gewaltig und ließ sich nicht so schnell beseitigen.
Zunächst schien die Normalisierung zügig abzulaufen. Die Bande, die ihn mit seiner Pubertät, dann seinem Dasein als jungem Mann verknüpften, heilten in einem Schwall von Erinnerungen, der sich wie Feuer anfühlte – wie Härtung und Verödung in einem. Das Feuer wandelte sich rasch in die verschwommene Überschwenglichkeit um, mit der er sich in die Schriftstellerei und in eine Ehe gestürzt hatte. Danach jedoch verlangsamten sich die Fortschritte. Während er mit Joan auf der Haven Farm lebte – vor dem Erscheinen seines ersten Romans und der Geburt ihres Sohns –, war er der Überzeugung gewesen, eine geistige Brillanz zu besitzen, die der grundlegenden Kraft des Lebens selbst entsprang. Doch er hatte sich als hohl bis ins Innerste erwiesen. Sein Bestseller war kaum mehr als ein alberner Akt der Selbstbeweihräucherung gewesen. Und das unverschuldet begangene Verbrechen der Leprose hatte seine Ehe zugrunde gerichtet. Und die Dinge, an die er sich danach erinnerte, brachten ihn dazu, sich zu winden.
Seine unfreiwillige, grausame Isolation, sein aufgezwungener Selbstabscheu hatten ihn tief in den charakteristischen Irrsinn der Lepraleidenden getrieben. Als er ins Land verschlagen worden war, schien das die endgültige Zusammenfassung und letzte Krise seines Lebens zu sein. Fast sofort hatte er die erste weibliche Person vergewaltigt, die ihm mit Freundlichkeit begegnete. Er hatte Menschen, die ihm halfen, gequält und mit Leid überhäuft. Unwissentlich war er den ihm von Lord Foul vorgezeichneten Weg gegangen, war nicht von diesem verhängnisvollen Pfad abgewichen, bis zu guter Letzt die Folgen seiner Handlungen auf ihn zurückfielen, ihn mit Entsetzen erfüllten. Und sogar anschließend bestand noch die Möglichkeit, daß er das größte Unheil herbeiführte, statt Wiedergutmachung zu leisten, wäre er nicht bei jeder Gelegenheit und in allem von Menschen wie Mhoram, Bannor und Schaumfolger unterstützt worden, von Menschen, denen ein viel tieferes Verständnis von Liebe und Tapferkeit zu eigen gewesen war als ihm. Selbst heute, Jahre später, grämte sich noch sein Herz, wenn er an den Schaden dachte, den er dem Land und dessen Bewohnern zugefügt, die Armseligkeit, mit der er ihnen am Ende doch geholfen hatte.
Seine Stimme hallte durch die dumpfige Enge des Kerkers. Seine Gefährten streckten sich ihm entgegen, während er, wie von Mutlosigkeit überwältigt, auf dem kalten Stein kniete. Aber er schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit.
Und er war keineswegs entmutigt. Er war angeschlagen, gewiß; ohne Frage mit Schuld belastet; übervoll mit Zerknirschung. Aber seine Lepra hatte ihm nicht nur Schwäche, sondern auch Stärke gegeben. Im Thronsaal von Fouls Hort, angesichts des Weltübel-Steins und Auge in Auge mit dem Verächter, hatte er das Zentrum des Paradoxons entdeckt. Im Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen seines Selbstabscheus und seiner Selbstbehauptung, zwischen Zweifel und Liebe, hatte er – indem er die Wirklichkeit des Verächters sowohl anerkannte wie auch leugnete – von seiner Macht Besitz ergriffen. Nun spürte er diese Macht in sich, für ihn bereit wie der Moment der Klarheit, der in der Mitte eines jeden Schwindelgefühls wartete. Als die Kluft sich schloß, hatte er zu sich zurückgefunden.
Er versuchte, die Tränen aus seinen Augen zu blinzeln. Wieder einmal hatte Linden ihn gerettet. Die einzige Frau, der er im Laufe von elf Jahren begegnet war, die sich vor seiner Krankheit nicht fürchtete. In seinem Interesse hatte sie immer wieder darauf bestanden, sich Risiken, Situationen und Anforderungen zu stellen, die sie weder in vollem Umfang ermessen noch bewältigen konnte. Der Stein unter Covenants Händen und Knien fühlte sich trügerisch an; nichtsdestotrotz war er fest zum Aufstehen entschlossen. Soviel war er ihr schuldig. Er vermochte sich noch nicht vorzustellen, welchen Preis sie dafür, daß sie ihm zu seiner Persönlichkeit
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