Der einsame Baum - Covenant 05
Aber über die graue, von keinem Sonnenschein erreichte Ausdehnung des Achterdecks hinweg zog Covenants Drangsal sie gebieterisch an. Mit steifen Beinen, deren Oberschenkel sie mit jedem Schritt zerscheuerte, ging sie zu ihm. Für eine Weile sah er sie nicht an. Er drehte ihr den Rücken zu, als könnte er den Anblick dessen, was aus ihr geworden war, nicht ertragen. Aber dann wölbte er die Schultern, faltete die Hände mit der verknoteten Verkrampftheit eines Würgers und wandte sich Linden zu. »Und nun wirst du mir erklären«, sagte er mit einer Stimme, als verträufle er Säure, »warum du das gemacht hast.«
Sie wollte ihm darauf nicht antworten. Die Antwort lag in ihr selbst. Sie stak in der Wurzel ihrer Stimmungen der Trübsal, bereitete ihrer Seele eine solche Qual wie der Schmerz, der in ihrem Ellbogen wütete, ihrem Körper. Doch die Zumutung, darüber reden zu sollen, verursachte ihr nichts als uneingeschränktes Entsetzen. Sie hatte das Verbrechen niemals jemandem eingestanden, nie irgendwem eine Gelegenheit und das Recht zugestanden, sie zu verurteilen. Was Covenant schon über sie wußte, war schlimm genug. Wäre sie zum Gebrauchen ihrer rechten Hand imstande gewesen, sie hätte das Gesicht bedeckt, um sich der harschen Eindringlichkeit und Ahnungsschwere seines Blicks zu entziehen. »Ich bin Ärztin«, preßte sie herb hervor, unternahm einen letzten Versuch, Covenant abzuwimmeln. »Ich mag Menschen nicht sterben sehen. Wenn ich sie nicht retten kann ...«
»Nein.« Das Drohen wilder Magie machte Covenant die Zunge wie bleiern. »Komm mir nicht mit irgendwelchen billigen Vernunftgründen! Diese Angelegenheit ist zu wichtig.«
Linden wollte ihm nicht antworten. Aber sie tat es. Alle Vorkommnisse und Nöte der vergangenen Nacht fanden in seiner Fragestellung einen zusammengefaßten Ausdruck und verlangten eine Klärung. Ceers Blut besudelte ihre Hose wie eine äußere Manifestation anderen Schmutzes, anderer Tode. Lindens Hände waren schon so lange mit Blut befleckt, daß der Makel eingesunken war in ihre Seele. Ihr Vater hatte ihr das Mal des Todes aufgedrückt. Und sie hatte ihm recht gegeben.
Zuerst kamen die Worte langsam über Lindens Lippen. Doch sie gewannen, ganz wie Besessenheit, fortlaufend an Kraft. Es dauerte nicht lange, und sie war ihrer Macht gänzlich ausgeliefert. Eines nach dem anderen stiegen sie aus ihr empor, bis sie beim Reden keuchte. Sie mußte sie aussprechen. Und die ganze Zeit hindurch beobachtete Covenant sie mit Ekel in seiner Miene, als verkomme allmählich alles in ihm, was er je für sie gefühlt haben mochte.
»Es kam durch das Schweigen«, begann sie; die einzelnen Wörter glichen schwachen, beinahe sinnlosen Hammerschlägen, die auf lange Sicht Granit doch brechen konnten. »Den Abstand zu allem.« Die Elohim hatten das Schweigen in Covenant getrieben wie einen Keil, die notwendige Verbindung zwischen Empfindung und Bewußtsein, zwischen äußeren Vorgängen und ihrem Eindruck getrennt. »Das Schweigen war von dir in mich übergegangen. Ich habe gewußt, was ich tat. Ich wußte, was ringsum geschah. Aber es war, als hätte ich keine Wahl. Ich hatte keine Ahnung, wie oder warum ich eigentlich atmete.« Sie wich seinem Blick aus. Die letzte Nacht schien noch einmal über sie zu kommen, verdüsterte den Tag, so daß sie lichtlos und allein in der Ödnis stand, zu der sie ihr Leben gemacht hatte. »Wir befanden uns auf der Flucht aus der Sandbastei, und ich war dabei, das Schweigen zu überwinden. Ich mußte ganz unten anfangen. Ich hatte mich daran zu erinnern, wie's war, in dem alten Haus mit dem Dachboden zu leben, an die Felder und den Sonnenschein, an meine Eltern, die schon nach einem Weg suchten, wie sie sterben könnten. Mein Vater schnitt sich die Handgelenke auf. Und danach war es für mich, als gäbe es gar keinen Unterschied zwischen dem, was ich tat, und dem, an das ich mich erinnerte. Auf dem Sandwall zu sein, das war das gleiche wie bei meinem Vater auf dem Dachboden zu sein.« Und die Verbitterung ihrer Mutter hatte ihr das Blut in den Adern säuern lassen. Indem sie ihren Ehemann verlor, so selbstsüchtig von ihm verlassen worden war, verlor die Frau anscheinend auch ihr Durchhaltevermögen. Durch den finanziellen Ruin ihres Ehemanns – und die Rechnungen für Lindens Krankenhausaufenthalt – sah sie sich gezwungen, das Haus zu verkaufen; und das hatte auf sie die Wirkung einer entscheidenden Niederlage gehabt. Ihre inbrünstige Kirchgängerei
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