Der einsame Baum - Covenant 05
äußerster Genauigkeit, setzte jede Dimension ihres intensivierten Wahrnehmungsvermögens ein. Aber sie entdeckte nichts. Die Insel bestand aus nichts als lückenlosem Stein, der jeder Art von Leben außer dem eigenen Dasein widerstrebte. Selbst zwischen den Klippen, wo Wasser schwoll und schwappte, gab es nicht einmal Tang oder andere Wasserpflanzen.
Der Fels als solcher vermittelte Linden lebhafte Eindrücke, wirkte so wuchtig und gewichtig wie komprimierter Granit – ein Auswuchs des grundlegenden, innersten Beins der Erde. Vielleicht zeigte sie sich gerade deshalb gegenüber allen schwächeren Manifestationen von Leben so wenig gastfreundlich. Während sie die Insel beobachtete, fiel Linden unversehens auf, daß sie auch keinerlei Vögeln als Nistplatz diente. Möglicherweise gab es im Gewässer innerhalb der Riffe keine Fische.
»Wo ist er?« murmelte Covenant, sprach mit allen und gleichzeitig niemandem. »Wo ist er?«
»Auf dem Berggipfel«, meinte Pechnase nach einem Moment des Überlegens. »Ist er nicht eine natürliche Stätte für das, was wir suchen?«
Linden verschwieg ihre Zweifel. Während die Sonne unterging, ein undurchschaubares Helldunkelmuster aus Orange- und Goldgelbfarbtönen auf die Hänge warf, vollendete die Sternfahrers Schatz ihre Umrundung der Insel, und noch immer hatte Linden nichts ausmachen können, das angezeigt hätte, daß hier der Einholzbaum stand – oder es ihn überhaupt je gegeben hatte.
Auf ein Nicken der Ersten hin befahl Blankehans, die Segel aufzurollen und vor den nördlichen Riffen die Anker der Dromond auszuwerfen. Für eine Weile sprach niemand auf dem Achterkastell ein Wort; das vom Sonnenuntergang angestrahlte Antlitz der Insel hielt alle in seinem Bann. In diesem Licht ließ sich eindeutig erkennen, daß man sich dem Sitz einer enormen Macht näherte. Die Sonne verschwand, als entböte sie der Welt ein Lebewohl. Abgesehen von der Geräuschkulisse, die aus den Tätigkeiten der Riesen, dem Klagen der Leinen und Seilrollen, der feuchten Umarmung entstand, in der die Wellen die Riffe hielten, herrschte ringsherum Stille. Nicht ein einziger Turmfalke stieß einen Schrei aus, um die Kahlheit der Insel zu lindern. Die Felsinsel stand in ihrem Schutzring aus Zähnen da, als wäre sie immer so gewesen und würde auch niemals anders sein.
»Riesenfreund«, wandte sich die Erste ruhig an Covenant, »willst du nicht warten, bis der neue Tag beginnt, ehe du's wagst, diese Stätte zu betreten?«
Ein Schaudern durchfuhr Covenant, als fröstle er zusammen. »Nein«, gab er barsch zur Antwort.
Die Erste seufzte. Aber sie erhob keine Einwände. Sie unterhielt sich mit Derbhand, und der Ankermeister entfernte sich, um das Zuwasserlassen eines Langboots zu überwachen. Anschließend sprach die Erste Covenant nochmals an. »Wir haben eine weite Fahrt zu dieser Insel unternommen. Aufgrund deiner Macht – und dessen, was du in Herzeleid für unsere verschollenen Volksgenossen vollbracht hast – haben wir dir bezüglich deiner Zwecke keine Fragen gestellt. Nun aber muß ich dich fragen.« Im Westen schien die Sonne hinter dem weiten, ausgedehnten Rund von See und Horizont zu sterben. Covenants Blick glich einem Widerschein von Feuer. »Hast du dich Gedanken darüber hingegeben, wie dieser Stab des Gesetzes, den du schaffen willst, anzufertigen sein könnte?«
Linden antwortete an Covenants Stelle, beanspruchte ihre Stellung unter den Gefährten, weil sie keine andere Möglichkeit wußte, um ihn am Aussprechen dessen zu hindern, was er mit ihr vorhatte. »Das ist der Grund, weshalb ich hier bin.« Covenant widmete ihr einen scharfen Blick; aber Linden hielt ihre Augen auf die Erste gerichtet. »Wegen meiner Sinne«, fügte sie hinzu, unbeholfen aus Verlegenheit. »Wegen der Dinge, die ich sehen und fühlen kann. Gesundheit. Richtigkeit. Ehrlichkeit. Welchen Grund könnte meine Anwesenheit sonst haben? Ich bin für das empfänglich, was ihr Gesetz nennt, für die natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Ich kann's erkennen, wenn etwas falsch oder richtig ist. Er ist nicht dazu in der Lage. Ich kann ihn anleiten.«
Doch kaum, daß sie auf ihre Aufgabe Anspruch erhoben hatte, sah sie ein, daß das nicht genügte. Covenants Emanationen waren unmißverständlich. Er hatte auf ihre Hilfe gesetzt. Aber er änderte seine Absicht nicht. Statt dessen musterte er sie, als hätte sie dem Wunsch Ausdruck verliehen, ihn zu verlassen. Hoffnung und Trauer ließen sich in ihm nicht mehr
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