Der einsame Baum - Covenant 05
zusammenfahren ließ. Die Handballen hämmerten erbittert gegen seine Stirn. Aber im nächsten Moment saugte er mit einem Fauchen den Atem durch die Zähne, und seine Hände begannen Umrisse in die Nacht zu zeichnen. Zuerst konnte Linden seine Gesten nicht durchschauen; ihr entging der Sinn der Umrisse, die er ihr zeigte. Doch er versuchte es noch einmal, darum bemüht, der leeren Luft ein Bild zu entringen. Diesmal verstand Linden ihn. »Der Einholzbaum.« Seeträumer nickte krampfhaft. Mit einem Arm machte er rundum einen Bogen. »Das Schiff«, sagte Linden im Flüsterton. »Sternfahrers Schatz.« Wieder nickte der Riese. Er wiederholte die Armbewegung, dann deutete er nach vorn, über den Bug hinaus. Seine Hände umrissen erneut die Baumgestalt. »Das Schiff fährt zum Einholzbaum.« Seeträumer schüttelte den Kopf. »Wenn das Schiff zum Einholzbaum gelangt.« Gram bewirkte, daß Seeträumers Nicken schwerfällig geriet. Er tippte sich mit einem Finger auf die Brust, wies auf sein Herz. Dann legte er die Hände zusammen, und sie drehten einander, mit einer ruckhaften Gewaltsamkeit, die auf ein Reißen hinauslief. Silbrige Rinnsale schimmerten quer über seiner Narbe.
Als Linden seinen Anblick nicht länger zu ertragen vermochte, schaute sie zur Seite – und sah dort Findail stehen, der herübergekommen war, um die Pantomime des Riesen mitzuverfolgen. Der Mond schwebte über der rechten Schulter des Ernannten; seine Gestalt und sein Gesicht lagen ganz im Dunkeln. »Hilf ihm!« verlangte Linden leise. Hilf mir! »Siehst du nicht, was er durchmacht?«
Für einen ausgedehnten Moment regte sich der Elohim nicht, gab keine Antwort. Dann trat er näher zum Riesen, streckte eine Hand nach Seeträumers Stirn aus. Seine Fingerspitzen drückten Besänftigung in das Schicksal, das daran geschrieben stand. Fast sofort erschlaffte Seeträumers Haltung. Muskel um Muskel wich die Drangsal aus ihm, als würde sie von Findails Berührung absorbiert. Das Kinn sank ihm auf die Brust. Er war eingeschlafen. Ohne ein Wort wandte sich Findail ab und kehrte an seinen bevorzugten Aufenthaltsort am Bug der Dromond zurück.
Behutsam, um den Schlummer des Riesen nicht zu stören, erhob sich Linden, suchte in stummem Bedauern wieder Covenants Seite auf, starrte zur Decke der Kabine empor, bis der Schlaf auch sie überkam.
Am folgenden Morgen brachte sie Seeträumers Problem vor der Ersten, Pechnase, Blankehans und Covenant zur Sprache. Aber der Kapitän wußte ihr keine neuen Einsichten zu vermitteln. Und Pechnase verlieh erneut der Hoffnung Ausdruck, es könnte Seeträumer irgendeine Abhilfe verschaffen, sobald man die Suche nach dem Einholzbaum beendet hatte. Doch Linden wußte es besser. Ernst schilderte sie ihre in der vergangenen Nacht stattgefundene Verständigung mit dem stummen Riesen. Pechnase tat nichts, um seine Bestürzung zu verbergen. Die Erste stemmte die Fäuste in die Hüften und schaute über den Bug hinweg in die Ferne aus, murmelte unterdrückt lange Riesen-Flüche. Blankehans' Gesichtszüge krampften sich zusammen, bis sie dem steifen Gewirr seines Barts ähnelten.
Covenant stand zwischen ihnen, als wäre er allein; aber er sprach für sie alle. Sein Blick schweifte über den Stein, mied Linden. »Glaubst du«, krächzte er, »wir sollten umkehren?«
Ja! hätte Linden jetzt zu gerne geantwortet. Doch sie konnte es nicht. Covenant hatte seine gesamte Hoffnung in den Einholzbaum investiert.
Eine Zeitlang schwang in den Befehlen, die Blankehans der Mannschaft erteilte, Unsicherheit mit, als schreie in seinem Innern eine Stimme des Widerspruchs, die Dromond müsse unverzüglich wenden, sich mit höchster Geschwindigkeit wieder von ihrem verhängnisvollen Ziel entfernen. Aber er behielt seine Befürchtungen für sich. Der Weg des Riesen-Schiffs durch die Fluten der See blieb unverändert.
Der tadellos günstige Wind blies fünf Tage lang. Er kühlte allmählich, aber stetig ab, indem das Schiff weiter nach Norden vordrang; aber er wehte trocken, verläßlich und gleichmäßig. Während dreier dieser Tage segelte die Dromond schnell durch die Wogen, ohne daß sich irgendwelche Zwischenfälle ereigneten, irgendeine Gefahr sich ergab, ohne daß man Land sichtete.
Am vierten Tag jedoch erscholl vom Ausguck herab ein Ruf der Verblüffung und Warnung. Unter Lindens Füßen fing der Stein zu zittern an, als wäre die Tiefsee voller Beben. Blankehans ließ die Segel reffen, bereitete das Schiff auf bedrohliche Umstände
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