Der einsame Baum - Covenant 05
eine Vereinigung bevor. Oder ein Tod ist zu erwarten.«
Vereinigung? dachte Linden überstürzt. Tod? Sie spürte, wie in Covenant die gleichen Fragen aufkamen. Was meint ihr damit? wollte sie sich erkundigen. Doch Chant lächelte wieder sein bedrohliches Lächeln. »Uns ist wohlbekannt«, sagte er unvermittelt, indem er nach wie vor nur zu Linden sprach, als stünde sie rangmäßig über ihren sämtlichen Begleitern, »daß eure Suche von großer Dringlichkeit getrieben wird. Wir sind kein Volk, das die Hast liebt, doch ebensowenig wünschen wir euch aufzuhalten.« Er drehte sich seitwärts und deutete mit vornehmer Gebärde längs des Callowwail . »Möchtet ihr uns nach Elemesnedene begleiten?«
Linden brauchte einen Moment, um sich zu einer Antwort durchzuringen. Zuviel auf einmal geschah. Seit sie Covenant zum erstenmal begegnet war, hatte sie sich ständig nach ihm gerichtet. Sie war nicht darauf eingestellt, für ihn oder sonst irgendwen Entschlüsse zu fassen. Aber sie hatte keine Wahl. In ihrem Rücken setzten die Emotionen ihrer Gefährten sie unter Druck: Blankehans' gespannte Erwartung, das angestrengte Schweigen der Ersten, Pechnases Sorge, Covenants heftige Zweifel. Sie bewahrten alle Zurückhaltung, überließen das weitere Linden. Und sie hatte ihre eigenen Gründe, aus denen sie sich hier befand. Sie verzog das Gesicht und nahm die Rolle auf sich, die man ihr zugeschoben hatte. »Schönen Dank«, sagte sie förmlich. »Deshalb sind wir gekommen.«
Chant verneigte sich, als habe sie sich ihm huldvoll gezeigt; aber Linden konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, daß er im geheimen über sie lachte. Dann wandten die beiden Elohim sich ab und entfernten sich; indem sie so flott ausschritten, als wäre ihnen die gleiche leichte Zusammensetzung wie der Luft zu eigen, strebten sie durch das gelbe Gras dem Mittelpunkt der Maidan entgegen. Linden schloß sich an, Cail an ihrer Seite; die übrigen Gefährten folgten. Sie hätte sich gerne mit ihnen verständigt, um irgendwelche Ratschläge zu erhalten. Aber sie fühlte sich zu bloßgestellt, um zu reden. Indem sie in geringem Abstand hinter Chant und Daphin blieb, versuchte sie, sich ein Vorbild an der zähen Zuversicht der Haruchai zu nehmen. Unterdessen hielt sie ins umliegende Gelände der Maidan Ausschau, weil sie hoffte, irgend etwas beobachten zu können, das ihr womöglich dazu verhalf, einen Elohim zu erkennen, der keine menschliche Gestalt besaß. Doch sie hatte von Chant und Daphin keine Anzeichen bemerkt, bevor die zwei sich ihnen zeigten; und auch jetzt vermachte sie nichts zu unterscheiden als das starke herbstliche Gras, darunter die Lehmerde sowie die Reinheit des Callowwail . Dennoch nahm ihr Gefühl des Entblößtseins zu. Nach einer Weile entdeckte sie, daß sie die Hände unbewußt zu Fäusten geballt hatte. Mühsam lockerte sie ihre Finger, betrachtete sie. Linden konnte kaum noch glauben, daß sie jemals ein Skalpell oder eine Spritze in der Hand gehalten hatte. Als sie die Hände sinken ließ, baumelten sie an den Handgelenken wie fremde Gegenstände. Linden wußte nicht, wie sie mit der Wichtigkeit fertig werden sollte, die die Elohim ihr offenbar beimaßen. Sie verstand die feine, klare Bedeutungsträchtigkeit der Glöckchen nicht zu enträtseln. Während sie Daphin und Chant nachlief, war ihr zumute, als werde sie in Treibsand gelockt. Ein sonderbarer Gedanke kam ihr in den Sinn. Mit keinem Wort waren die Elohim auf Hohls Anwesenheit eingegangen. Noch immer begleitete der Dämondim-Abkömmling die Gruppe wie ein Schatten. Aber Chant und Daphin hatten in keiner Weise auf ihn reagiert. Linden wunderte sich darüber, fand jedoch keine Erklärung.
Früher als erwartet gelangten sie in Sichtweite der Callowwail -Quelle – die Dunstwolke einer Fontäne, die wie ein Ornament in der Mitte der Maidan stand. Je weiter sie sich ihr näherten, um so deutlicher hob sie sich von ihren Sprühnebeln ab. Sie schoß wie ein Geysir aus einem hohen Kegel von Kalktuff. Ihr Wasser zerstob in der Höhe in Schleier und Regenbogen, fiel zu Füßen des Buckels auf den Erdboden und sammelte sich dort, um den Fluß zu bilden. Das Wasser sah so erbaulich aus wie Kristall, glich dem Flitter märchenhafter Verheißungen; der Travertin jedoch, den es abgesetzt hatte und fortwährend befeuchtete, wirkte dauerhaft und unnachgiebig. Der Höcker aus Kalkablagerung schien in sich zusammengezogen zu sein, als könne er durch nichts in der Welt bewegt werden. Die
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