Der einsame Radler: Auf dem Weg von Bremen zum Bodensee (German Edition)
der Lage sie richtig einzuordnen. In ihrem Aussehen und ihrem Benehmen glichen sie jedenfalls unverkennbar jenem Menschenschlag, von dem Großmutter immer erzählt hatte, sie sei in den Garten geschickt worden, um die Wäsche ins Haus zu holen, weil Zigeuner in der Stadt gesehen worden wären. Und weil Großmutters Vorurteile alle Angriffe meiner Vernunft überlebt hatten, bereute ich es heftig, so ein kleines Vorhängeschloss für meine Reißverschlüsse am Zelt nun doch nicht gekauft zu haben. Als ich im Kaufhaus davor gestanden hatte, war ich mir albern vorgekommen. Jetzt kam ich mir dumm vor.
Manche Blondinen haben wunderschöne blaue Augen und das blau gestrichene Schwimmbecken das Gießen mir so überraschend bot nahm mich sehr für diese Stadt ein. Es gibt nichts Schöneres als sich am Abend eines heißen, verradelten Tages mit ein paar Schwimmzügen zu entspannen. Besonders wenn es nicht mit zusätzlichen Kosten verbunden ist. In meinen Augen hatte Gießen sehr an Ansehen gewonnen. Auch an Blondinen entdeckt man gelegentlich positive Eigenschaften. Man kann es sogar gut mit ihnen aushalten, solange sie sich mit lauten Äußerungen zurückhalten.
Nach dem Baden trank ich noch ein Bier an einem der grünen Gartentische, die vor dem Kiosk standen. Das Weizenbier wurde hier in kleinen Damenportionen, kleinen Flaschen von 0,3 Liter Volumen verkauft. Es gab auch die passenden Gläser dazu. Vor mir am Tisch saß ein breitschultriger Mann mit Cowboyhut. Er hatte schon sechs der kleinen Fläschchen um sich versammelt und schaute mich mit traurigem Bulldoggengesicht an.
»Bei der Hitze verträgt man nichts«, murmelte er, legte den Kopf auf die Arme, stieß dabei eine der Flaschen vom Tisch, die knirschend auf dem Kies davon rollte, und schlief auf der Stelle ein.
Die Badeanstalt hatte sich geleert. Der Durchgang zu ihr wurde geschlossen.
»Noch ein Bier? Ich mache jetzt zu«, rief die Frau aus dem Kiosk.
»Ja«, sagte ich und holte es mir. Aus der Kneipe im Holzhaus drangen erstickter Jubel und qualvolles Stöhnen. Europameisterschaft. Um mich herum tobte eine Horde kleiner schwarzhaariger Kinder in Badehosen. Ein schlankes Mädchen in einem langen schwarzen Kleid und einem bunten Band im Haar rief sie zusammen und trieb sie zu den Wohnwagen hinüber. Der Tätowierte rüttelte den Schlafenden an der Schulter und schickte ihn nach Hause. Ich ging zu meinem Zelt.
Ich träumte von einer hübschen Blondine. Sie trug einen glitzernden Sticker im Nasenflügel und auf ihrem Schulterblatt wand sich ein blauer Lindwurm. Wir tanzen in einer Diskothek. Die Musik brach ab. Wir gingen an die Bar.
»Soll ich dir einen Witz erzählen?«, fragte sie. Ihr Mund war groß und stark geschminkt. Bevor ich antworten konnte, meldete sich der DJ zu Wort. Ich verstand nicht, was er sagte. Die Boxen waren übersteuert und die Akustik schlecht. Dann legte die Musik los. Sie erklang aus vollem Rohr.
Ich saß in meinem Zelt, in meinem Schlafsack, völlig verschreckt, senkrecht auf der Luftmatratze. Das war kein Traum mehr. Der Krach war echt. Er kam aus dem Holzhaus hinter meinem Zelt. Rock`n roll. Elvis Presley aus übersteuerten Lautsprechern. Auf dem städtischen Campingplatz Gießen, nachts um 23.00 Uhr. Die Kapuze rutschte mir vom Kopf. Ich mag Rock`n roll. Ich mag Elvis. Aber ich mag es nicht, wenn er mich nachts aus dem Schlaf reißt. Auch dann nicht, wenn er mich dabei vor dem Witz einer Blondine bewahrt. Es begann eine Nacht der Leiden. Ein Mann kann nach einem anstrengenden Tag auch schlafen, wenn es laut um ihn herum ist. Das Meeresrauschen ist laut. Ein Wasserfall ist laut. Laubwälder, durch die der Wind fegt, sind laut. Am Meer, bei einem Wasserfall oder in einem Wald kann ein Mann wunderbar schlafen. Aber er kann nicht auf einem Campingplatz schlafen, der von Lautsprecherboxen beschallt wird, deren Gedröhn alle fünf bis zehn Minuten unterbrochen wird und nach kurzer mit Stimmengewirr gefüllter Pause wieder einsetzt. Vor allem dann, wenn ein größenwahnsinniger Diskjockey glaubt, er müsse sich in betrunkenem Zustand auch noch als Sänger präsentieren. Da wurde einem nicht nur der Schlaf geraubt, sondern auch noch das Ohr beleidigt. Ich nahm einige Proben der Darbietung mit meinem Recorder auf. Nachdem es mir hier vergangen war, wollte ich wenigstens zu Hause etwas zum Lachen haben.
Der grausige Spuk dauerte bis drei Uhr früh.
Elfter Tag
Bereits um zehn Uhr hatte ich Gießen
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