Der einsame Radler: Auf dem Weg von Bremen zum Bodensee (German Edition)
kühl. Ich hatte genug. Ich packte meine Sachen. Als ich oben wieder auf dem Weg stand, blickte ich noch einmal zurück auf den See. Der Wind hatte den Dunst vom jenseitigen Ufer entfernt. Ich hatte klare ungehemmte Sicht bis zum Horizont. Und dann erstarrte ich in eisigem Schreck. Da stand etwas. Da stand etwas Grauenvolles. Etwas was ich nie und nimmer hier erwartet hatte, etwas, das ich aber eigentlich bei besserer Reisevorbereitung hätte erwarten müssen. Da stand die Silhouette eines Kraftwerks - eines Atomkraftwerkes. Ich fröstelte. Hatte ich im Kühlwasser eines Reaktors gebadet? War ich schon verseucht? Kein Wunder, das der See vom bakteriologischen Standpunkt aus unbedenklich war.
Unverhofft befiehl mich ein Grauen, als hätte ich mit einer schönen Frau geschlafen, die mir nach dem Beischlaf erzählte, sie wäre einmal an Syphilis erkrankt gewesen nun aber wieder völlig geheilt. Da befallen einen doch nachträglich noch Misstrauen und Unbehagen.
So ähnlich geht es einem auch mit abgeschalteten Atomkraftwerken. Man kann nie ganz sicher sein.
Ich aß noch einmal chinesische Nudelsuppe und trank dann im Freien vor der Gaststätte im Beisein von städtisch gekleideten Besuchern eine Apfelschorle. Dabei sinnierte ich darüber, das von dem ursprünglichen Eindruck mich an einem strahlend schönen Ort zu befinden, nur noch das Strahlen übrig geblieben war - und das fand ich nun überhaupt nicht schön. Der bakteriologisch einwandfreie See war mir verleidet. Morgen würde ich dieser bedrohlichen Gegend den Rücken kehren.
Dreizehnter Tag
Etappenziel war Großheubach am Main.
Zunächst schickte mich mein Routenplan allerdings auf die gegenüberliegende Seite des Mains in Richtung Seligenstadt. Ich blieb auf dieser Seite des Mains um Aschaffenburg auszuweichen und floh wieder zurück, als ich bei Klingenberg unbehaglich nahe an eine Ausbaustrecke kam und eine schmale Brücke über einem Wehr Rettung versprach.
Ich überquerte die Brücke über der Staustufe und fand mich an deren Ende vor einer Treppe wieder, die zwar eine abgeteilte Schräge mit Geländer und Radrinne für Zweiräder hatte, die aber wie üblich für Gefährte mit Gepäck zu schmal war. Was tun? Abladen und einzeln hinuntertragen? Damit hatte ich schon vor Marburg schlechte Erfahrungen gemacht? Nein. Ich wollte das nicht wiederholen. Ich vertraute auf meine inzwischen verbesserte Kondition, schulterte das Rad samt Gepäck und kam nach einer kurzen heftigen Anstrengung heil und wohlbehalten unten an.
Ein Mann hatte mich beobachtet.
»Bravo«, lobte er. »Wo soll es denn hingehen?«
»Zum Campingplatz nach Großheubach.«
»Aha«, sagte er. »Hier können sie aber nicht weiter. Hier wird gebaut. Sie müssen ein Stück am Main entlang zurück und dann nach rechts.«
Jetzt sagte ich: »Aha.« Und bedankte mich für den Rat.
Ich fuhr also zurück, bis ich zu einer Abzweigung kam. Dort bog ich wie man mir geraten hatte nach rechts ab. Nach einem kurzen Wegstück stand ich vor einem neuen Problem. Geradeaus ging es durch ein schwarzes Loch, unter einem Damm hindurch, ins Ungewisse und nach rechts also in die Richtung, in die ich ursprünglich nach dem Verlassen der Brücke fahren wollte, führte ein verlockend hübscher Weg aus festgefahrenem Sand. Als ich gerade der Verlockung nachgeben wollte, näherte sich von hinten ein dunkel gekleideter Mensch, männlichen Geschlechts auf einem alten schwarzen Fahrrad.
»Wo wöllets Ös na hi?« So oder so ähnlich hörte es sich, an was er mir entgegenrief. Die Bremsen schrien erschrocken auf, als er neben mir zum Stehen kam. Ich erklärte ihm, wohin ich wollte.
»Kummat `s. Mia müssat durchs Loch. Ich bring Ihna hie, wanns recht is.« Er bemühte sich, deutlich hochdeutsch, zu sprechen. Ich versicherte ihm, dass es durchaus »recht« wäre und wir fuhren los.
Es ging zwischen Kleingärten hindurch, hinter deren Zäunen sich kleine Häuschen duckten. Manchmal ließ sich auch der Main für einen Augenblick sehen. Dann kam wieder ein Stück begrüntes Brachland. Mein Begleiter strampelte munter neben mir und ich erfuhr einen Teil seiner Lebensgeschichte, so weit ich eben diese seltsame Sprache, die er benutzte und die ich für eine Art odenwälder Fränkisch hielt, enträtseln konnte.
Einundsechzig Jahre wäre er jetzt alt und seit seinem sechsundfünfzigsten Lebensjahr arbeitsunfähig geschrieben. Wegen Diabetes. Und jeden Tag würde er zweiundzwanzig Kilometer mit dem Fahrrad
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