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Der Einsatz

Der Einsatz

Titel: Der Einsatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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besaß außerdem jenen untrüglichen Instinkt, der ihr von Anfang an den Ruf als unbestechliche Beobachterin eingetragen hatte. Sie spürte genau, wo jemand seinen wunden Punkt hatte, und legte sofort den Finger darauf.
    «Jetzt nicht», sagte Harry. «Später vielleicht. Es gibt viel zu tun.»
    «Sie sagen es, Harry. Diese gottverdammten Idioten von der Regierung haben nichts anderes mehr im Sinn, als Teheran zu bombardieren.» Wie viele andere Frauen hatte auch Marcia eine ganz besondere Freude am Fluchen.
    Harry schüttelte den Kopf. «Die haben überhaupt nichts kapiert.»
    Sie sah ihn an, und ihre versoffenen alten Augen funkelten mit einer Lebhaftigkeit, die weder Alter noch ein schwieriges Leben zerstören konnten.
    «Kapieren
Sie
es denn, Harry? Die Zeit läuft uns davon.»
    «Ja, das wird mir auch langsam klar. Ich werde Ihnen davon erzählen, sobald ich kann.»
     
    Drei Tage vergingen, in denen Harry sich erfolglos um einen Termin beim Direktor bemüht hatte, als schließlich eine neue Nachricht aus dem Iran eintraf. Sie lag nicht in dem von Doktor Ali eingerichteten GoogleMail-Ordner, sondern kam von einem Server in Tabrizkam über die offene Website der CIA herein. Zunächst begriff man in der I T-Abteilung nicht, dass es sich um eine weitere Nachricht von Doktor Ali handelte, aber Harry war das auf Anhieb klar. Der iranische Wissenschaftler war zu seiner ursprünglichen Kontaktform zurückgekehrt. Offenbar war das der einzige Übertragungsweg, dem er wirklich traute – eine einzelne verschlüsselte Nachricht von einem Computer aus, der garantiert sicher war. Der Inhalt war ebenso knapp wie beunruhigend:
     
    Diesen Herbst ist es kalt in Teheran. Ich glaube, wir müssen bald in Urlaub fahren. Vielleicht könnten Sie mir mit den Tickets helfen. Hinterlassen Sie eine Nachricht in meinem Posteingang. Machen Sie sich keine weiteren Sorgen um unser Problem.
     
    Der Iraner hatte seiner Nachricht eine Bilddatei beigefügt, die eine junge Frau mit Kopftuch zeigte, ein lächelndes kleines Mädchen von drei oder vier Jahren auf dem Arm. Die Frau war eine iranische Schönheit mit dunklen Brauen und riesigen Augen, deren weiches Gesicht auf dem Foto in einer perfekten Balance aus Licht und Schatten festgehalten war. Aber sie hatte auch einen flehenden Ausdruck im Blick, als wollte sie dem Fotografen bedeuten, er solle sie und ihr Kind in Frieden lassen. Im Hintergrund waren laut Aussagen der Fotoauswerter die bewaldeten Hügel des Mellat-Parks im Norden Teherans zu sehen.
    Harrys erste Vermutung war, dass die Menschen auf dem Foto Molavis Frau und seine Tochter sein mussten. Vermutlich hatte er mit seiner Familie am Freitagnachmittag einen Spaziergang durch den Park gemacht, um seiner Frau zu beweisen, dass alles in Ordnung war. Außerdem wollte er der CIA zeigen, was für ihn auf dem Spiel stand, dass er eine wunderschöne Frau und ein hilfloses Kind hatte. Er hatte sie aus den dunklen Gassen Teherans, wo jeder ständig in Angst leben musste, in den anonymen Park gebracht und ein Digitalfoto von ihnen gemacht. Und dann hatte er das Bild seiner Nachricht angefügt, um die Wirkung seiner Worte zu unterstreichen.
    Irgendetwas musste passiert sein. Der Iraner hatte Angst, da war sich Harry sicher. Er spürte es, als hätte ihm der Mann in einem sicheren Haus eine schweißnasse Hand gegeben.
    Der Iraner musste bei der Arbeit etwas gesehen oder vielleicht auf dem Nachhauseweg bemerkt haben, dass er verfolgt wurde. Womöglich hatte er auch ein verstecktes Spionageprogramm auf seinem Computer gefunden. Harry hatte in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren so viele Agenten betreut, dass er ihre Ängste selbst in einer E-Mail förmlich riechen konnte. Zunächst schritten sie auf ihrem Weg des Verrats unbeirrt voran und glaubten, genau zu wissen, was sie taten. Eines Tages dann hörten sie hinter sich irgendwelche Schritte, sahen bedrohliche Schatten, und auf einmal wurde ihnen klar, was wirklich auf dem Spiel stand. An diesem Punkt war Doktor Ali jetzt angekommen. Seine Hände zitterten, er hatte weiche Knie. Und er wollte nur eines: fliehen.
    Harry konnte sich das alles mit quälender Klarheit vorstellen, nur eines nicht: wer dieser Karim Molavi eigentlich war, von dem er bisher nur den Namen und die Adresse kannte. Er hatte beschlossen, diese Details zunächst für sich zu behalten, denn einerseits wusste er viel zu wenig, und andererseits wusste er wiederum – Adrian sei Dank – viel zu viel.
     
    Später am Tag

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