Der eiserne Gustav
»Es ist zu spät, Vater!« sagte sie.
»Zu spät!« Er versuchte zu lachen. »Sag doch bloß so was nicht, Evchen! Wie alt bist du? Zwanzig Jahre bist du! Da gibt’s noch kein zu spät. Das solltest du doch von deinem Vater wissen: Nur eisern muß man sein.«
»Es geht nicht, Vater«, sagte sie. »Ich kann nicht mehr … Er« – sie machte eine Kopfbewegung –, »er kann mich jeden Tag ins Kittchen bringen. Ich hab geklaut, Vater …«
Der alte Hackendahl wurde erst sehr rot, dann langsam grau. Er wollte aufstehen, nach dem jungen Mann hinübergehen, aber es blieb bei dem Versuch, er blieb im Sessel sitzen.
Nach einer Weile sagte er dann, ein wenig mühsam: »Nun gut, Evchen, dann haste eben geklaut. Ick hätt’s nich jedacht,daß mal eins von meinen Kindern sagen würde: ›Ick hab geklaut, Vater‹, und ick bleib sitzen. Aber es sind andere Zeiten, es ist wirklich Krieg – ick versteh es nich, Evchen, innen versteh ick es nich. Es müssen wirklich andere Zeiten sin, und ick muß auch anders jeworden sin …«
Er sah sie fast ratlos an.
Dann begann er wieder: »Nun gut, hier sitz ich also und sag: Du hast geklaut, Evchen. Da fahren wir nu eben nich nach Hause, da fahren wir zusammen auf de Wache … Ich steh dir bei, Evchen, da sagste selbst, was der Kerl von dir weiß. Und nu jut – nu laß man – dann jehste eben deine Zeit ins Kittchen …«
Es wurde ihm doch fast zuviel, aber nach einer Weile besann er sich wieder und sagte: »Ick hätte es nich von mir jedacht, det ick so reden würde. Aber ick rede dir nich zu Munde, Mächen, wenn ick dir sage: Auch ein anständiger Mensch kann mal in’t Kittchen kommen. Auch ein anständiger Mensch kann mal schwach jewesen sein. Er kann auch Unglück haben. – Der Kerl da«, er zeigte, »der is dein Unglück. Du kannst auch wieder anständig sein, Evchen!«
Sie hatte immer auf seinen Mund gesehen. Nun fragte sie: »Und dann, Vater, wenn das hinter mir liegt, mit Gefängnis und allem – was wird dann?«
»Na, denn kommste wieder zu uns, Evchen!«rief er. »Wat denkst du, wat du uns fehlst! Det is doch nich unsere Eva, die sich jetzt rumdrückt, die keinen Piep tut – und sonst haste so schön jesungen! Nee, Mächen, denn wird alles wieder, wie’t war …«
»Nie!« sagte sie und schüttelte den Kopf. »Jetzt ist es zu spät, jetzt steck ich zu tief drin …«
»Sag doch bloß nich immer: zu spät, Evchen. Du bist zwanzig Jahre …«
»Und dann bei euch! Ich kenn dich doch, Vater, du kannst doch gar nicht richtig vergeben und vergessen. Mich würdest du immer von der Seite angucken, in zwanzig Jahren noch!«
»Sag das nich, Evchen, ick hab auch das von Erich vergessen …«
»Siehste, Vater! Gleich denkst du an Erich. Hast gedacht – der Sohn klaut, warum soll die Tochter nicht auch klauen?! Nichts kannst du vergessen!«
»Du sagst mir Sachen, Eva!« rief Hackendahl. »Nischt weißt du von mir! Bin ick nich nett jetzt eben zu dir jewesen, habe ick ein Wort von Vorwurf jesagt?«
»Siehst du! Gleich schmeißt du es mir vor! Nee, Vater, und was soll ich denn bei euch? Da so rumnuscheln in der Wohnung, die Betten machen und das Essen kochen? Nee, das mach ich nun auch nicht mehr! Futsch ist futsch und hin ist hin – das wären ja alles bloß halbe Sachen!«
»Besinn dich, Evchen. Anständige Arbeit ist immer gut.«
»Aber ich bin bei deiner anständigen Arbeit so geworden, wie ich jetzt bin! Glaubst du, der Eugen hätte mich so leicht gekriegt, wenn ich nicht bei euch so geworden wäre? Anständige Arbeit, jawohl, immer Pflicht und Gehorsam und Pünktlichkeit – aber das war ja alles gar nicht wahr, Vater!«
»Doch, doch. Mächen! Det sage nich! Ick habe anständig jearbeitet …«
»Und was hast du jetzt davon? Auf dem Bock sitzt du wie vor zwanzig Jahren, aber der Gaul, den du vor dir hattest, der war vor zwanzig Jahren besser! Und was noch kommt, das weißt du auch nicht. Alles hast du noch nicht hinter dir …«
»Nee, Evchen, det habe ick wirklich noch nich, da haste recht. Det ick ’ne Tochter haben würde, dir mir sacht, ins Jesicht sacht, sie is lieber im Puff beim Luden als bei Vatern un Muttern – det hab ick nich jejlaubt!«
Er stand jetzt, er stand schon eine ganze Weile. Nun legte er die Decke wieder über seinen Arm, strich sie glatt. »Aber, Evchen«, sagte er, »det ick nu den Schlummervater von deinem Luden abjeben tue, det darfste nu auch nich von mir verlangen. Es is besser, du ziehst janz zu ihm. Hol dir deine Sachen –
Weitere Kostenlose Bücher