Der eiserne Gustav
eine Handbreit unter ihren Füßen. Sie beugt sich darüber. Sie sieht es nicht, das Wasser. Sie sieht nur ein paar Lichtreflexe von der Brücke her darin blinken. Jetzt sich fallen lassen, denkt sie.
Aber sie läßt sich nicht fallen. Angstvoll reißt sie ihren Oberkörper vor dem Dunklen, das da unten leise gurgelt, zurück. Sie steht lange da, sie wartet, aber nichts geschieht.
Manchmal gehen Menschen oben über die Brücke, aber keiner sieht sie, keiner ruft: Halt, Hilfe! Sie will sich ertränken! Und solch ein Ruf würde ihr vielleicht doch die Kraft geben, den Sprung zu tun, vor dem sie Furcht hat. Ihn zu tun, mit der Hoffnung, gerettet zu werden.
Als sie nach langem Warten schließlich doch vorsichtig einen Fuß in das Wasser taucht, als sie die eisige Feuchte in den Schuh dringen fühlt – ist schon alles entschieden: Sie wird es nicht tun.
Langsam steigt sie die Stufen wieder hinauf. Langsam macht sie sich auf den Weg, sie weiß nicht, wohin. Vorher ging sie eilig, sie war fast froh. Sie ging aus dem Leben, alles war ihr abgenommen.
Mit
dem
Traum ist es jetzt vorbei. Jetzt geht sie schwer zurück, alles ist wieder da – das Leben geht weiter. Es gab kein Aufhören für sie. Lange ging sie durch den dunklen Tiergarten, durch die dunkle Stadt. Erst, als der Morgen nahe war, wagte sie sich in bekanntere Gegenden. Jetzt würde er schlafen. Schließlich schlich sie die Treppe zum Heim der Gertrud Gudde hinauf. Von der Gudde wußte er nichts. Vielleicht durfte sie hier in Frieden bleiben.
Sie durfte es.
6
Während Gertrud Gudde der Eva gut zuredete, die halb Erstarrte auszog und in ihr fast noch warmes Bett legte –, während bei Eva Hackendahl alle Verzweiflung sich in einem fassungslosen Weinen löste, das allmählich leiser wurde, bis sie zu erzählen anfing –, während die beiden Frauen berieten, wie das gemeinsame Leben einzurichten sei, mit Ummeldung und Sachenholen und Lebensmittelkarten und Arbeit –, während alledem lag der Unteroffizier Otto Hackendahl ineinem Granattrichter zwischen den deutschen und den französischen Stellungen und wartete bereits seit dem Morgengrauen sehnsüchtig darauf, daß es Abend wurde. Der Granattrichter lag recht nahe an den französischen Stellungen, kaum dreißig Meter entfernt. Gottlob aber war er so tief, daß direkte Einsicht nicht zu fürchten war. Die deutschen Gräben lagen weiter entfernt, an die hundertzwanzig Meter, und das war schlimm, denn nach den deutschen Stellungen wollte er wieder zurück, und vor Nacht war das nicht zu machen.
Wenn es ein Trost war, so war es ein Trost, daß Otto Hackendahl nicht allein in diesem Trichter lag. Ganz auf seinem Grunde lag ein zweiter Mann: der Leutnant von Ramin. Otto kannte den Leutnant von Ramin nicht weiter, sie hatten sich erst im Granattrichter kennengelernt. Der Leutnant war von einer Bereitschaftskompanie, die den Sturmangriff aus den Gräben zu unterstützen gehabt hatte. Dieser Sturmangriff war abgeschlagen, der Leutnant und Otto hatten sich gerade noch, um der Gefangenschaft zu entgehen, in den Granattrichter retten können. Dann war das höllische Feuer losgebrochen und hatte jede Rückkehr in die eigenen Stellungen unmöglich gemacht. Und nun war der Tag gekommen …
Es war ein eisig kalter Tag, der Himmel hing tief, mit grauen Wolken. Gottlob, dachte Otto. Wenigstens kein Fliegerwetter.
Er lag da und sah in den Himmel, gerade das Innere des Trichters und den Himmel konnte er sehen. Aus dem Trichter hinauszuschauen war nicht ratsam, sie schossen ziemlich lebhaft in beiden Gräben. Ab und an hörte er ein Kommando aus der nahen französischen Stellung. Einmal lachte auch einer. Die haben gut lachen, dachte Otto verfroren. Mir ist verdammt kalt. Und bis zum Abend werde ich noch mehr frieren.
Um sich abzulenken, fing er an, auf die mit dem Morgen erwachende Feuertätigkeit zu lauschen. Langsam kam die Artillerie in Gang – nun gab es in der Ferne einen schweren Schlag. – Unsere Mörser legen los, dachte er. Dann warenwieder nur die Feldgeschütze zu hören, aber sie kamen vorläufig nicht hierher. Heute kann man nur wünschen, daß wir die Franzosen hier ein bißchen in Ruhe lassen. Wir sitzen richtig in der Mausefalle, der Leutnant und ich …!
Er sah zu dem Leutnant hin. Der Leutnant lag zusammengerollt im Grunde des Trichters und las in alten Briefen. Als er Ottos Blick spürte, hob er den Kopf und fragte: »Nun, Unteroffizier, an was denken Sie?«
Der Leutnant hatte ein helles, sehr
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