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Der Eiserne König

Der Eiserne König

Titel: Der Eiserne König Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Henry Eagle
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bezweifele ich, dass sie die Sprache der Tiere versteht.«
    »Stumm?«, keckerte Reineke Fuchs. »Aber … wie sollen wir sie dann ausquetschen?«
    »Kannst du lesen und schreiben?«, fragte die Muhme.
    Das Mädchen schüttelte verneinend den Kopf.
    »Das ist keine Schande«, bemerkte der Fuchs. »Analphabeten leben länger.«
    »Klar«, grunzte der Dachs. »Dummheit schont die Nerven.«
    Die Muhme betrachtete das Mädchen. »Hat man ihr etwa …«, flüsterte sie.
    Maleen nickte.
    »Wir müssen die Gografen aufsuchen«, sagte die Muhme und stand ächzend auf. »Sie wissen nicht, wie es steht, und wir brauchen dringend ihre Hilfe.«
    »Und die stumme Schönheit?«, fragte Reineke Fuchs.
    »Wir nehmen sie mit«, antwortete die Muhme. »Vielleicht erfahren wir doch noch etwas von ihr.«
    Auf dem Weg zum Schloss stieß das Mädchen fröhliche Laute aus und zeigte auf einen Zugvögelschwarm, der auf die Feste zuflog. Diener liefen an den Neuankömmlingen vorbei, ohne sie zu beachten. Der Fuchs war pikiert. »Haben die noch Schlaf in den Augen?«, fragte er. »Oder sehen sie jeden Tag stolze Tiere wie uns, die von zwei Schönheitsköniginnen und einer Knitterfaltengreisin begleitet werden?«
    Die Muhme ließ ihren Stock auf den Boden knallen.
    Das Schloss war ein schlichter Bau. Erker mit Schießscharten und Pechluken saßen an den Ecken, die efeuberankte Fassade hatte hohe Spitzbogenfenster. Hinter dem Westflügel ragte der Bergfried auf, über dem das Banner mit dem Wappen der Gografen wehte. Es zeigte einen sechszackigen, von zwei Kornähren flankierten Stern.
    »Stern und Ähren bedeuten Wohlstand und Frieden«, erklärte die Muhme. »Die hinter dem Schild gekreuzten Schwerter stehen für Wehrhaftigkeit, und Rot und Blau sind die Farben der Familie von der Usse.«
    Sie stiegen die Freitreppe hinauf. Am Schlossportal wurden sie von zwei Wächtern aufgehalten.
    »Seid gegrüßt«, rief die Muhme. »Ich bin die Hollermuhme aus Flutwidde. Wir bitten um eine Audienz bei den Gografen. Es ist dringend. Eure Herren kennen mich.«
    »Und … die da?«, fragte ein Wächter und zeigte auf Dachs und Fuchs.
    »Sie gehören zu uns«, antwortete Maleen. »Sie sind Freunde und Verbündete.«
    Die Wächter starrten die Tiere an. Dann verschwand einer im Schloss. Seine Schritte hallten in der Eingangshalle.
    Die Muhme setzte sich auf die Treppe. »Warum ist Macht immer mit Förmlichkeit verbunden?«, murmelte sie und holte ihre Pfeife heraus.
    »Gute Frage«, sagte der Fuchs. »Wieso bitten sie uns nicht einfach herein und servieren uns einen fetten Kapaun?«
    »Einen Kapaun?«, grunzte Meister Grimbart. »Frisst du etwa kastriertes Geflügel?«
    »Das Fleisch eines Hahns ohne Eier ist zarter«, erwiderte der Fuchs und leckte seine Lefzen.
    Maleen ließ sich neben der Muhme nieder. Das Mädchen betrachtete das Blumenbeet vor der Freitreppe. »Uh-humm«, sagte sie und zeigte auf einen Ranunkelstrauch.
    »Oh, ja. Sehr hübsch«, murmelte die Muhme, die ihre Pfeife entzündete.
    Niemand achtete auf die Zugvögel, die die Feste überflogen. Niemand sah, dass sich einer aus der Formation löste und ein paar Sekunden rüttelnd in der Luft hing. Niemand sah, wie er zum Sturzflug ansetzte. Maleen und die Muhme, Dachs und Fuchs merkten erst auf, als ein dumpfer Aufprall ertönte. Bei dem Anblick des schuppigen, geflügelten Ungeheuers, das mit Krallen und Reißzähnen auf das Mädchen losging, sträubte sich Meister Grimbarts Schwarte. Krieger rannten herbei. Eine Magd ließ kreischend die Wäsche fallen, und die Pferde eines mit Bierfässern beladenen Fuhrwerks scheuten. Das Mädchen strampelte, aber das Ungeheuer hackte weiter auf sie ein und wehrte den zur Hilfe geeilten Dachs mit einem Klauenhieb ab. Ein Krieger stieß dem Ungeheuer die Lanze in die Seite. Blaugrünes Blut strömte auf das Kopfsteinpflaster und mischte sich mit dem Blut des Mädchens, dessen Hände schlaff zu Boden sanken. Ein zweiter Krieger durchbohrte das Ungeheuer mit dem Schwert. Ein schriller Schrei hallte über den Hof, dann brach es zusammen, und seine Flügel breiteten sich mit einem letzten Zucken wie eine Decke über dem Mädchen aus.
    Meister Grimbart, auf dessen Stirn eine Wunde klaffte, kam auf die Läufe. »Glück gehabt«, murmelte er. »Etwas tiefer, und es wäre ins Auge gegangen …«
    Da erschienen die Gografen auf der Freitreppe, Hilck und Helmdag von der Usse, Zwillingsbrüder, die sich nur durch die Augenfarbe unterschieden: Einer hatte grüne,

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