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Der Eiserne König

Der Eiserne König

Titel: Der Eiserne König Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Henry Eagle
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einer schier endlosen Zeit wich Maleen zurück. Das Mädchen starrte weiter ins Leere. Dann trat so etwas wie Leben in ihre braunen Augen. Ihre Lider fielen zu. Aus der Starre erlöst, sank sie auf die Seite. Das blaue Licht erlosch, und Maleen torkelte zur Bank, wo sie auf das Mädchen fiel.
    »Diese Knutscherei ist ein ekelhafter menschlicher Brauch«, knurrte Reineke Fuchs.
    »Sie liegen da wie ein Liebespaar …«, flüsterte die Muhme.
    »Die beiden schlafen tief und fest«, sagte der Dachs. »Aber was ist mit dem Bann? Ist er jetzt gebrochen?«
    In der Feste herrschte Totenstille. Nichts regte sich. Nur die Schatten wanderten im Gefolge des Mondes langsam über Hof und Wälle. Muhme, Dachs und Fuchs sahen sich ratlos um.
    Da ließen sich Zeisig und Sperling auf dem Brunnendach nieder und begannen zu zwitschern, obwohl der Morgen noch fern war.

21. Die Hüterin
    Nach dem Unwetter, das über der Hohen Heide getobt hatte, war es wieder warm geworden. Die Zwergspinnen segelten an ihren Fäden durch die Luft, die Äpfel glänzten rot, und die Birnen fielen überreif von den Bäumen und wurden im hohen Gras von Wespen zerfressen.
    Aber auf den Auen Flutwiddes sammelten sich die Gänse für den Zug nach Süden, und auch die Kiebitze brachen vorzeitig auf. Abergläubische, die die Worte »Komm-mit!« aus ihrem Ruf herauszuhören glaubten, hielten sie für Totenvögel und verschlossen bei ihrem Anblick die Ohren, um ihnen nicht ins Jenseits folgen zu müssen.
    Ein Schwarm dieser Vögel, die im Flug gern Rollen schlugen und anderen Schabernack trieben, zog von der Hohen Heide nach Südwesten. Die Kiebitze überflogen die Usse und den Westen Flutwiddes, wo das Getreide auf den Feldern faulte. Sie überflogen Gehölze und Wälder, deren Laub schon jetzt, im Spätsommer, sein Grün verlor. Aber es verfärbte sich nicht gelb oder rot, sondern grau, und wenn es fiel, wurde es zu einer Asche, die den Boden fahl aussehen ließ. Sobald die Bäume kahl waren, kroch eine an Schimmel erinnernde Schicht an ihrer Rinde hinauf und verwandelte sie in Skelette – abgenagte Kadaver, von denen niemand wusste, ob sie je wieder treiben würden.
    Vielleicht flohen die Kiebitze nicht vor dem Winter, sondern vor dieser widernatürlichen Veränderung. Und vielleicht war ihr Ruf kein böses Omen, sondern ein guter Rat: Komm mit, bevor es zu spät ist!
     
    Die Sonne stand hoch, und ein Kiebitzschwarm überflog die Feste der Gografen mit lautem »Kiewiet! Kiewiet!«. Maleen erwachte und stellte erstaunt fest, dass ihr Kopf im Schoß des Mädchens lag. Die Muhme schlief auf einer zweiten Bank. Fuchs und Dachs dösten vor dem Brunnen.
    Ringsumher herrschte reges Treiben: Die Feste war zum Leben erwacht. Ein Ochsengespann rumpelte über den Platz, und Knechte und Mägde eilten hin und her, als hätte es die Unterbrechung durch den Zauber nie gegeben. Die Bewohner der Feste waren so geschäftig, dass sie die Neuankömmlinge nicht bemerkten. Ja, sogar die Wachen, die mit klirrender Rüstung über das Kopfsteinpflaster schritten, übersahen die hinter dem Ring aus Rosenbüschen verborgenen Frauen und Tiere.
    Das Mädchen öffnete die Augen und sah sich verwirrt um. Sie zog ihr weißes Gewand über den Knien zurecht und lächelte, als sich Zeisig und Sperling auf Maleens Schultern niederließen. Dann fiel ihr Blick auf die Rosen. »Umm!«, stieß sie hervor und zeigte darauf. »Uh-humm!«
    Maleen folgte ihrem Blick: Die Blüten der weißen und roten Rosen waren von ungesunden, braunen Flecken bedeckt. Im nächsten Moment wurde ihr bewusst, dass das Mädchen stumm war. Und sie begriff auch, warum – denn als ihr das Mädchen wieder ein breites Lächeln schenkte, sah sie, dass man ihr die Zunge herausgeschnitten hatte.
    Maleen erschrak über diese Grausamkeit. »Man hat sie misshandelt und benutzt«, dachte sie. Dann fiel ihr ein, dass der Hag dem Blut von elf Jungfrauen entsprossen war. Dies war die zwölfte.
    Der Fuchs erwachte. Er gähnte und reckte und streckte sich, stellte die Gehöre auf und drehte sie hin und her. »Seht euch das an«, rief er. »Der Bann ist gebrochen.«
    »Blitzmerker«, murmelte der schlaftrunkene Dachs.
    Die Muhme setzte sich auf. »Oh, oh, oh«, stöhnte sie. »Meine alten Knochen …« Sie rieb erst ihren Rücken, dann setzte sie die verrutschte Haube richtig auf.
    Der Fuchs erblickte das Mädchen und fragte: »He! Wer bist du?«
    Das Mädchen lächelte ihn an.
    »Sie ist stumm«, erwiderte Maleen. »Außerdem

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