Der Eiserne König
ist. Den Haaren wohnt angeblich große Macht inne. Vielleicht können wir sie gegen unsere Feinde verwenden.«
»Oh …!«, entwich es dem ältesten Weib. Sie schwieg kurz, als müsste sie sich sammeln. »Wie gut«, fügte sie schließlich heiser hinzu, »dass ihr damit zu uns gekommen seid.«
Die anderen Weiber tuschelten miteinander.
»Warum tragt Ihr Trauer?«, wollte Sneewitt wissen.
»Unsere jüngste Schwester wird vermisst«, sagte die Alte. »Wir haben Anlass zu der Vermutung, dass sie … tot ist.«
»Barbera?«, hechelte der Fuchs. »Tot? Das glaube ich nicht. Eher sammelt meine Urgroßmutter Ermeline im Grab ihre morschen Knochen zusammen und wandelt wieder unter den Lebenden.«
Die Alte wandte ihm das verschleierte Gesicht zu, als hätte sie verstanden.
»Barbera ist eine Verräterin!«, rief Sneewitt. »Sie hat sich mit dem Eisernen König verbündet.«
Hinter ihr ertönte ein metallisches Sirren. Als sie herumfuhr, hatte der an der Eingangstür stehende Kultknecht den Säbel gehoben, der seiner Schulter entspross. Er sah Sneewitt mit einem kalten Blick an. Dann fragte er: »Sollten unsere Gäste nicht zuerst etwas essen, ehrwürdige Herrinnen? Nach dem langen Weg sind sie sicher hungrig.«
»Hervorragende Idee«, brummte Meister Grimbart.
»Ja, ich denke auch«, sagte das älteste Weib. »Führ sie in den Speisesaal. Und danach … in das gelbe Gemach.«
Sie nickte den Gefährten zu und humpelte davon, gefolgt von ihren Schwestern.
Im Speisesaal brannte ein Feuer im Kamin. Der lange Tisch war reich gedeckt, und Kunz und Sneewitt futterten wie die Scheunendrescher. Auch Meister Grimbart und Reineke Fuchs fraßen mit Heißhunger. Schließlich rieb Kunz seinen Bauch, wischte den Mund mit einer Serviette ab und sagte: »Freunde, bin ich voll. Wenn ich jetzt sterben muss, dann wenigstens satt.«
Sneewitt wurde blass und ließ ein Stück kalten Fasan fallen. »Meinst du, man will uns vergiften?«, hauchte sie und starrte ihren Teller an, als wären die Pellkartoffeln verzauberte Fliegenpilze.
»Ach, was«, erwiderte der mampfende Fuchs. »Dann wären wir längst tot umgefallen.«
»Ich habe weder etwas gewittert noch geschmeckt«, ergänzte der Dachs. »Das Essen ist nicht vergiftet. Ganz im Gegenteil: Die Küche der weisen Weiber ist hervorragend.«
»Wenn du meinst«, erwiderte Sneewitt und schob den Teller weg. »Mir ist jedenfalls der Appetit vergangen.«
Der Speisesaal war geweißt, die Balken dunkel gebeizt. Zwei Fenster boten einen Blick auf das abendliche Flutwidde. Die Wandteppiche zeigten verschlungene Pflanzenmuster, und in den Ecken standen Vasen mit getrockneten Disteln. Ohne die Reliefs der Wilden Jagd auf der Kamineinfassung hätte alles hell und freundlich, ja gemütlich gewirkt.
»Hat jemand einen Zahnstocher?«, fragte Kunz. Als niemand antwortete, schnitt er ein längliches Holzstück aus dem Tisch, spitzte es an und prokelte damit zwischen den Zähnen herum. Sneewitt saß mit mulmigem Gefühl da, und die beiden Tiere gähnten herzhaft. Sie waren schon fast eingedämmert, als der Kultknecht erschien, um sie auf ihre Zimmer zu geleiten.
»Habt ihr wirklich eine Ragnarökk gesehen?«, fragte er.
»Nein«, antwortete Sneewitt, die ein geheucheltes Erstaunen aus seiner Stimme herauszuhören meinte. »Nicht wir, sondern die Tiere.«
»Man erzählt sich, dass Ragnarökk und Wilde Jagd verwandt sind«, murmelte der Mann, der mit einer Laterne voranging. »Kaum zu glauben.«
»Warum sieht man im Haus und auf dem Hügel all die Bilder dieser Ungeheuer?«, wollte Kunz wissen.
Die immer wieder von Stiegen unterbrochenen Flure wanden sich wie die Tunnel eines riesigen Baus durch das nach außen hin unscheinbare Häuschen. Schritte hallten, und die Krallen von Dachs und Fuchs klackerten auf den blitzblanken Dielen. Sie kamen an vielen Türen vorbei, alle geschlossen, manche mit Vorhängeschlössern gesichert. Meister Grimbart, der die Ohren spitzte, bildete sich ein, hin und wieder ein Stöhnen zu hören, ein Sausen und Brausen, das dumpf aus großer Tiefe heraufdrang.
»Die Bilder sind uralt«, erwiderte der Kultknecht und blieb vor einer Tür stehen. »Sie zeigen die Geschöpfe einer Welt, in der noch nicht geschieden war, was zusammengehört.«
»Aha«, sagte Kunz. »Verstehe.« Er sah Sneewitt an und zog die Braue seines veilchenblauen Auges hoch.
Der Kultknecht stieß die Tür auf, die knarrend in das Zimmer schwang. »Hier schlaft ihr. Alle zusammen. Das ist einfacher.
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