Der Eiserne König
letzten Wertsachen ab. So behielt der Eiserne König das Land im Griff, während er mit seiner Streitmacht zum Unkengrund zog.
Dort erklangen die leisen, melancholischen Rufe der Unken. Irrlichter tanzten über Schilf und Binsen. Manche Krieger hielten sie für Glühwürmchen, andere für die ruhelosen Seelen jener Übeltäter, die man früher zur Strafe lebendig ins Moor geworfen hatte, ein grausamer Brauch, dem die Gografen Einhalt geboten hatten. Alle murrten wegen des Stellungswechsels, der noch im Laufe der Nacht vollzogen werden sollte. Man schürte die Feuer und entfachte Fackeln, in deren Schein Waffen und Ausrüstung verladen wurden. Dann rückte das Heer vom Hügel ab, um anderthalb Meilen weiter östlich Stellung zu beziehen, auf nassem Grund am Ufer der Fusel, zwischen Schilf und geborstenen Salweiden, die im Dunkeln an riesige Tierskelette erinnerten.
Der graue Morgen kroch durch den Greting wie ein Heer von Gespenstern. Grimm ritt grübelnd durch Isarnho. Die Eichen waren kahl, auf grauen Stämmen blühte Schimmel. Nicht einmal eine Maus huschte durch das Unterholz. Im Wald herrschte Totenstille, und so kam es, dass Grimm das Schnauben der Kaltblüter von Rumpenstünz und Sneewitt in der Ferne hörte. Da er nicht wusste, wer ihm folgte, zog er sein Schwert und trabte weiter, bis er zu einer der Felsnadeln gelangte, die überall im Greting aufragten. Dort saß er ab und ging in Deckung. In seiner Wut dürstete es ihn nach Blut; er hätte seine Klinge gern in einem warmen Leib versenkt, aber als er um die Ecke lugte, erkannte er die zwei Gefährten. »Sie misstrauen mir«, dachte er und sprang mit Gebrüll hinter der Felsnadel hervor.
Die Kaltblüter scheuten. Sneewitt legte in Windeseile einen Pfeil auf, doch Rumpenstünz rief: »Das ist Grimm!«
»Was soll der Blödsinn?«, bellte Sneewitt, die ihren Bogen senkte.
»Und was soll
der
Blödsinn?«, entgegnete Grimm und zeigte mit der Schwertspitze auf die zwei Reiter. »Warum verfolgt ihr mich?«
Rumpenstünz tauschte einen Blick mit Sneewitt. Dann sagte er: »Die Muhme hat uns gebeten, dich im Auge zu behalten.«
»So, so, die Muhme«, höhnte Grimm, der das Schwert in die Scheide steckte. »Dieses misstrauische Hutzelweib. Sie sollte lieber zu Kate, Holundern und Katzen zurückkehren.«
»Woher willst du Ochsenblut, Ebersaft und Ziegenmilch nehmen?«, fragte Sneewitt.
Grimm packte den Sattelknauf und schwang sich auf den Rappen. »Ganz einfach: Ich schlachte einen Ochsen, melke eine Ziege und entsafte einen Eber«, antwortete er spöttisch.
»Hier gibt es diese Tiere nicht«, murmelte Rumpenstünz.
»Oh!«, rief Grimm. »Wirklich? Erstaunlich, dass ich darauf noch nicht gekommen bin … Ts, ts, ts.«
»Ob uns die Keiler weiterhelfen können?«, fragte Sneewitt, die den Hals ihres Kaltblüters streichelte.
»Unsinn. Niemand kann uns helfen«, erwiderte Grimm. Er schnalzte mit der Zunge, und der Rappe trabte los. »Was wäre so schrecklich daran, wenn der Eiserne König Pinafor regieren würde?«, rief er über die Schulter. »Das Leben geht weiter, egal, wer herrscht. Der Mensch passt sich an, das ist seine Stärke. Im Grunde gleicht er Asseln oder Kakerlaken. Er ist wie Geschmeiß, das allen Widrigkeiten trotzt und im übelsten Dreck überlebt. Ich könnte euch ein Lied davon singen!«
Die zwei Gefährten sahen sich entgeistert an. Dann ritten sie ihm nach, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Sie trabten schweigend und ziellos durch den ausgestorbenen Wald. Das Tageslicht drängte sich durch Felsklüfte, zwängte sich zwischen Bäumen durch, gewann allmählich an Boden. Sneewitt und Rumpenstünz wurden immer verzweifelter und verzagter, während sie Grimm folgten, der gegen sich selbst geiferte: »Ich war ein Räuber. Und was bin ich jetzt? Ein Untoter. Das Geschöpf einer machtgierigen, blutrünstigen Hexe, die mir vorgegaukelt hat, sie würde mich lieben. Dumm war ich. Dumm bin ich. Fluch über sie! Fluch über mich!«
Die Stille im Wald war so übermächtig, dass sie in den Ohren dröhnte. Eine dicke Schicht aus grauem Eichenlaub dämpfte die Huftritte. Da bäumte sich der Rappe wiehernd auf. Blätter stoben, als seine Vorderhufe wieder auf den Boden sackten. Grimm zog blank. Sneewitt griff überrascht nach Bogen und Köcher und trat Rumpenstünz, der im Sattel schlief, gegen das Bein. »Wach auf!«, rief sie. Im nächsten Moment sah sie einen koboldhaften Kerl mit tätowiertem Oberkörper, der vor ihnen aus einer hohlen
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