Der Eiserne Rat
Er beobachtete das Gleis. Die letzte Chance. Eine Meile, nicht mehr, zwischen den schützenden Wänden der von den alten Streckenbauern gesprengten Schlucht. Wieder kreisten Wyrmen am Himmel, diese aber sprachen mit anderem Akzent. Es waren Stadt-Wyrmen, die gekommen waren, um die sagenumwobenen Rebellen zu begrüßen. »Kommt, kommt«, riefen sie, »wir warten. Hinter der Miliz. Auf euch.« Sie machten kehrt und flogen zurück zu irgendeiner Streckenmaschinerie. Cutter fiel in Trab.
»Ann-Hari.« Ein Ruf vom oberen Rand der Schlucht, sechs Meter über ihren Köpfen. Cutter hob den Blick, und es war Judah.
Cutter stöhnte auf. Er hielt sein Pferd an, neben ihm blieb Rahul stehen, und auch er und Ann-Hari schauten in die Höhe. Da stand Judah Low. Er bemühte sich gestikulierend, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
»Ann, Ann-Hari«, rief Judah. »Cutter.« Er winkte sie mit beiden Armen zu sich herauf.
»Judah«, flüsterte Cutter.
»Kommt her, kommt her. Was tut ihr hier? Was tut ihr? Götter, kommt herauf.«
Für Rahuls schweren Chimärenkörper war der Hang zu steil, das Erdreich zu locker. Er musste unten warten, derweil Cutter und Ann-Hari mit der Hilfe von Wurzeln und Grasbüscheln nach oben kletterten und, bei Judah angelangt, sich aufrichteten. Cutter hielt den Kopf so lange wie möglich gesenkt, erst ganz zuletzt hob er sein schiefergraues Gesicht und sah Judah Low.
Judah schaute Ann-Hari an, sein Gesichtsausdruck verriet nicht, was in ihm vorging. Er schloss sie in die Arme und hielt sie umfangen, lange. Cutter schaute zu. Cutter leckte sich über die Lippen. Cutter wartete. Judah wandte sich ihm zu, und mit einem halben Lächeln umarmte er auch ihn. Für einen kurzen Moment ließ Cutter sich gegen ihn sinken, schloss die Augen und lehnte den Kopf an seine Schulter, dann ermannte er sich und trat zurück. Von ihrem erhöhten Standort aus konnten sie die Stelle sehen, wo die Gleise aus dem Durchstich herauskamen.
Sie schauten sich an, die drei, musterten sich gegenseitig. Hier stand er, der hoch gewachsene, hagere Mann Judah Low. Was bist du?, dachte Cutter. Ein Sammelsurium verschiedener Gegenstände verriet, dass er hier gewartet hatte: eine Wasserflasche, die obskuren Gerätschaften seiner Golemisterei, ein Teleskop.
Dieser Platz war eine Tribüne, sie waren Zuschauer geworden, aus dem Geschehen herausgelöst. Die letzte Bergpassage vor der Stadt. Wyrmen flogen über ihren Kopf hin und her, kreisten, schrien hysterische Warnungen.
»Was hast du gemacht?«, bestürmte ihn Cutter. »Was tust duhier? Sie wollten nicht anhalten, Judah, sie wollten nicht umkehren. Ich hab’s versucht.«
»Ich weiß. Ich wusste, du redest gegen eine Wand. Ist nicht schlimm.«
»Was ist passiert? In der Stadt?«
»Ach, Cutter. Aus der Traum.« Judah wirkte seltsam ruhig, verzagt. Sein Blick ging zwischen Cutter und Ann-Hari hindurch zur Biegung der Strecke, dorthin, wo der Zug in Sicht kommen würde. Er schaute wieder sie an, schaute auf die Gleise. Seine Aufmerksamkeit wechselte ständig hin und her.
»Was tun wir jetzt?«, fragte Cutter.
»Wir können nichts mehr tun«, antwortete Judah. »Es ist nicht mehr dasselbe. Die Stadt – sie hat sich erneut gewandelt.«
Ann-Hari mischte sich ein. »Weshalb bist du hier, Judah? Weshalb bist du hier hergekommen, Judah Low?« Sie war umgeben von einer Aura unterschwelliger Komplizenschaft. Um beider Lippen spielte ein feines Lächeln. Der schalkhafte Unterton in ihren Stimmen. Ungeachtet des unausweichlichen Gemetzels, sogar im Angesicht der aufmarschierten Armee, schien sie zu Neckereien aufgelegt. Sie streckte die Hand aus und berührte ihn, wieder und wieder, und er sie. Die Spannung zwischen ihnen räkelte sich wie ein Tier von ihm zu ihr und wieder zurück.
»Judah!«, unterbrach Cutter laut das Intermezzo, und Judah wandte sich ihm zu.
»Ja, ja, Cutter«, sagte er. »Natürlich.« Er wurde ruhiger. »Weshalb bist du hergekommen?«
»Was hast du getan, Judah?«, wiederholte Cutter seine Frage von vorhin, doch man hörte ein Geräusch, und Judah stieß ein vergnügtes Glucksen aus wie ein kleiner Junge und stellte sich auf die Zehenspitzen, wieder wie ein Kind. Er lächelte. Unter Tränen.
In etwa einer halben Meile Entfernung wurde eine durchscheinende Rauchfahne sichtbar, stieg auf wie ein dem Höllenschlund sich himmelwärts entwindender Geist, schneller, schwenkte um eine scharfe Biegung des in das Felsgestein gesprengten Pfades. Vor dem nahenden Zug
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