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Der Eiserne Rat

Der Eiserne Rat

Titel: Der Eiserne Rat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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die Strecke in leichter Steigung bergan, bis der Zug auf einem Grat entlangfuhr, der den von Granitstoppeln übersäten Boden in Luv und Lee trennte. Bäume klommen am Hang hinauf und bildeten Waldzungen, und die Geschöpfe, die dort heimisch waren, spektakelten in den Wipfeln. Viele Meilen weit im Westen verdichtete das Miasma der Bäume sich zum Rudewood.
    Die Stunden verrannen rasch im mesmerischen Rattatat der Räder, das Cutter vergessen hatte in den Monaten der Langsamkeit. Jetzt, wo der Zug auf der großenteils durchgehenden Strecke Fahrt aufnehmen konnte, hörte man es wieder. Das Rattern der Räder, das Pochen der Kolben. Ah ah, ah ah, wie wenn einem jemand auf die Schulter klopft, wieder und wieder. Es erinnerte an etwas, machte unruhig, synkopierte Angst.
    Ich werde es wissen, gleich werde ich es wissen, sagte Cutter zu sich selbst. Einen Moment noch, dann entscheide ich mich. Der Ewige Zug blieb nicht stehen, trug ihn Meile um Meile näher heran an New Crobuzon, ehe, so kam es ihm vor, ehe er überhaupt Muße hatte, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Was wird passieren?
    Seine Waffe war geölt, geladen, schussbereit. Er fuhr im Begleitwagen zusammen mit Außenseitern, Flüchtlingen, die aufgeregt waren und voller Angst vor dem, was vor ihnen lag. Die Strecke wand sich in Schlangenlinien, wie um sie zu necken, die Endstation vor ihren Blicken zu verbergen. Viele Meilen noch, dachte Cutter, aber die bange Erwartung des Delinquenten ahnte die Richtstätte immer hinter der nächsten Biegung.
    »Ich muss nach Hause zurück. Sie warten auf mich«, sagte jemand. Etwas wartet bestimmt, dachte Cutter. Etwas wartet ganz bestimmt auf dich.
    Ich bleibe nicht. Plötzlich war es Gewissheit. Ich laufe nicht über, ich gehe nicht zu diesem Hurensohn Drogon, aber ich werde auch nicht feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln, indem ich mich massakrieren lasse. Was wirst du tun? Er gab der Frage eine Stimme. Ich mache mich aus dem Staub. Wohin wirst du gehen? Wo ich hingehen muss. Und Judah Low? Wenn ich kann, werde ich nach ihm suchen. Judah Low.
    O Judah o Judah. Judah, Judah.
     

     
    Die Nacht sank herab, als ob die Luft sich zu Schwärze verdichtete, und sie fuhren weiter. Aus den Fenstern strömte Licht über die graue Ebene und verwandelte den Zug in einen Tausendfüßler mit Gaslichtbeinen.
    Noch etliche zehn Meilen. Übergangslos waren die Schienen glänzend sauber, die Strecke frei. Regelmäßig befahren vielleicht, überlegte Cutter. Möglicherweise hatte die Stadt diese Strecke aufrechterhalten, transportierte Geisterpassagiere zu Geisterbahnhöfen. Dann, in der Leichentuchhelligkeit des frühen Morgens, entdeckte er Gestalten neben der Strecke, die Queräxte schwenkten und dicke Reisigbesen und den Zug ermunterten: Weiter, weiter und ihn begrüßten: Willkommen daheim.
    Aus der Stadt geflüchtete Kollektivisten. Immer mehr tauchten aus der Schwärze vor dem Zug auf, blinzelten in das milchige Licht seiner Scheinwerfer und winkten. Der Tag kündigte sich an. Deserteure des Kriegs zwischen Kollektiv und Parlament, durch den Rudewood gekommen oder den gefährlichen Korridor westlich von Dog Fenn, wo die Miliz auf sie Jagd machte und Vergeltung übte. Sie waren gekommen, um als ungelernter Arbeitstrupp die Strecke zu säubern.
    Die Crobuzoner winkten mit Hüten und Schals. Heimwärts, heimwärts, brüllte einer. Manche weinten. Sie streuten getrocknete Blütenblätter auf die Gleise. Da waren auch welche, die die Arme über dem Kopf schwenkten, Nein schrien und: Sie bringen euch um! Andere trugen eine Art traurigen Stolz zur Schau.
    Sie liefen an der Strecke mit, sprangen auf die Trittbretter, warfen den Dirimisten und ihren Kindern Winterblumen zu, etwas zu essen, Worte flogen hin und her, dann ließen sie sich wieder nach unten fallen. Die im Zug saßen, waren ernst und wortkarg geworden unter dem Gewicht von Schicksal und Mission. Denen, die zu Fuß hinterhergingen, fiel es zu, die Flüchtlinge in die Arme zu schließen, in ihre Reihen aufzunehmen.
    Leute liefen neben den Wagen her und riefen Namen. Sie suchten nach Familienangehörigen.
    »Nathaniel! Ist er bei euch? Nathaniel Besholm. Remade, Arme aus Holz. Ist damals mit dem Zug in der Wildnis verschollen.«
    »Split Nose! Mein Vater. Ist nie heimgekommen. Weiß einer, was aus ihm geworden ist?«
    Namen und Schnipsel der Familiengeschichte, atemlos hervorgestoßen von Leuten, für die die Rückkehr des Eisernen Rats nicht allein ein Realität gewordener Mythos

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