Der Eiserne Rat
durch die Gassen von Brock Marsh, dann watschelte ein Dachs heimwärts, unter verrammelten Ladenfronten. Gravitätische und unheilvolle Aerostate hingen unter Wolken.
Zwei Flüsse trafen sich am Ende ihres Laufs und vereinten sich zu einem mächtigen, behäbigen Strom, dem Gross Tar. Streckenweise Kloake, wälzte er sich aus der Stadt, umspülte die Stümpfe einer eingestürzten Brücke und suchte jenseits der Elendsquartiere im Orbit von New Crobuzon das Meer. Die illegalen Bewohner der Stadt unternahmen kurze Ausflüge ins Freie und tauchten wieder unter. Es herrschte mitternächtliche Geschäftigkeit. Jemand war immer tätig, unzählige Jemande, in Hochhäusern, eleganten Villen, oder den Backsteinhäuschen in Chnum oder in den Fremdrassenghettos, im Tepidarium oder den von Mörtelkäfern umgestalteten Reihenhäusern in Kinken und Creekside mit ihren neuen weichen Konturen aus erstarrtem Insektenseim. Unaufhörlich drehte sich das Rad des Lebens.
Am nächsten Tag stand nichts von dem Tumult im Follibecker in den Zeitungen, auch nicht am übernächsten. Trotzdem machte die Nachricht von dem Vorfall die Runde.
Ori ließ die richtigen Leute wissen, dass er dabei gewesen war. Wenn er an den Läden und Kneipen von Syriac vorbeischlenderte, spürte er, dass man ihn bemerkte, und er wusste, dass einige von denen, die zu ihm hinschauten – die Frau da, der Vodyanoi, der Mann und der Kaktusmann, sogar der Remade dort – dem Gremium angehörten. Ohne sich seine innere Erregung anmerken zu lassen, klopfte Ori sich unauffällig mit der Faust an die Brust, ein Gruß unter Eingeweihten, den einige ignorierten, andere erwiderten. Untereinander verständigten sich die Gremisten mittels ausgeklügelter Daktylologie, Handargot aus der Innenstadt, den Ori nicht deuten konnte. Er dachte sich, dass er vielleicht der Gegenstand der ausgetauschten Informationen war.
Ori stellte sich das Gremium vor, in einer seiner geschlossenen, geheimen Sitzungen, und er ein Punkt auf der Tagesordnung. Natürlich war damit nicht zu rechnen, aber es machte ihm Freude, sich die Szene auszumalen. Gut, seine Freunde waren Nuevisten, aber nicht dekadent, keine Taugenichtse oder zufrieden damit, nur zu schockieren. Er stellte sich das Gremium vor, Delegierte aller Parteien, die ihre Debatten über Strategie und Widerstand gegen die Regierung unterbrachen, die Ausarbeitung der Taktik des Katz-und-Mausspiels mit der Miliz und deren Informanten, um sich lobend über Ori Ciuraz und seine Freunde und ihre gelungene Provokation zu äußern. Reine Phantasie, aber schön.
In Gross Coil nahm Ori jede Arbeit an, die sich bot. Abholen und Liefern für eine Mahlzeit und schlechte Bezahlung. Waffengraue Komponenten eines militärischen Geräts, das an der Küste entlang transportiert werden musste, über das Karge Meer und durch die Meerenge und weiter zu dem fernen Kriegsschauplatz. Er schuftete auf jedem Rangiergleis, jedem Lagerplatz, für jeden Abwracker, der einen Arbeiter brauchte, half Leichtern an der Mandrake Bridge, und nach Feierabend trank er mit Arbeitskollegen, die zu zeitweiligen Freunden geworden waren.
Er war jung, Grund genug für die Vorarbeiter, ihn herumzuschubsen, aber mit weniger Enthusiasmus als gewöhnlich. Sie waren verunsichert. Harte Zeiten für die Fabriken in Gross Coil, in Kelltree und Echomire. Hinter der Gießerei am Tuthen Way sah Ori Brandstellen auf der Erde, wo sich in den vergangenen Wochen Barrikaden befunden hatten. An den Mauern die Symbole des Widerstands. Toro; Gotteshand lebt!; das schablonierte Konterfei des Dirimisten vom Eisernen Rat. Kugeleinschläge zeichneten die Mauern an der Tricorn Fork, dem Ort, wo nicht ganz ein Jahr zuvor die Miliz gewaltsam gegen Hunderte Protestierer vorgegangen war.
Angefangen hatte es im Paradox Konzern, als spontanes Aufbegehren gegen einige Entlassungen, und war dann sehr schnell auf die Straße übergesprungen, trug Uneinigkeit in die Belegschaften anderer Firmen, wenn manche sich den Demonstranten anschlossen, deren Sprechchöre immer radikaler und politischer wurden. Erst ging es um die Forderung nach Wiedereinstellung, dann um Lohnerhöhungen, es folgten Angriffe gegen die Bürgermeisterin, Kritik an der Suffragium-Lotterie, und endlich ging es um das Recht auf freie und allgemeine Wahlen. Flaschen flogen und Brandsätze, es kam zu einem Schusswechsel – wer hatte den ersten Schuss abgegeben, die Miliz oder kam er aus den Reihen der Demonstranten? Es war nicht mehr
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