Der Eiserne Rat
ein Rebenschwein lebend, in einem Steinbecken. Zitternd vor Hunger und dem Gift seiner schwärenden Wunden, lief es hinkend im Kreis und versuchte, den Boden aufzuscharren. Seine Haut war von wulstigem Wurzelgeflecht durchzogen und bedeckt von dem Blätterpelz seiner symbiotischen Ranken. Die Flechtenfrüchte waren vertrocknet. Cutter erschoss es aus Mitleid.
»Deshalb haben die Kaktusleute im Süden beschlossen zu kämpfen«, meinte Pomeroy nach einer langen Zeit des Schweigens. »Von Gräueltaten wie diesen hatten sie gehört. Sie sahen die Miliz und dachten, das blüht ihnen auch.«
»Aber warum nur? Warum?«, klagte Elsie. »Galaggi gehört nicht zu Tesh, es ist frei. Dies sind keine Teshi.«
»Nein, aber sie treffen Tesh damit«, erklärte Judah. »Öl und Wein aus Galaggi fließen durch Teshs Kontore auf Tesh-Schiffe. Sie sind noch nicht stark genug, um einen Schlag gegen die Stadt selbst zu führen, aber auf diese Weise führen sie einen Schlag gegen ihren Geldbeutel.«
Sie waren über die Grenzen ihrer Landkarten hinausgelangt. Zwei-, dreihundert Meilen weit westlich lag Tesh in der weiten Küstenebene. Dorthin schweiften Cutters Gedanken, obgleich er nicht wusste, was er sich ausmalen sollte. Was sich vorstellen? Tesh, die Stadt der Schleichenden Wasser. Ihre Ringgräben und gläsernen Katzen und die Catoblepas-Ebene und Kauffahrteischiffe und unsteten Diplomaten und der Weinende Prinz.
Mehrere tausend Seemeilen lagen zwischen der Eisenbucht und der fernen Küste mit dem Vorposten, den New Crobuzon nördlich von Tesh etabliert hatte. Die Truppenkontingente hatten einen langen und harten Weg zurückzulegen, vorbei an Shankell, über Meere, wo es von Piasa und Piraten wimmelte, durch die Lohwasser-Enge in der Hand der Hexenkaste, welche ihren Nachbarn Tesh unterstützte. Es existierte keine Route über Land, quer durch das wilde Innere von Rohagi, keine Abkürzung. Der Krieg mit Tesh erforderte größte Kraftanstrengungen. New Crobuzon musste seine Truppen per Schiff auf eine monatelange Reise durch feindselige Gewässer schicken, um den Widerpart an seinem Fundament zu treffen. Cutter war beeindruckt von dem brutalen Durchsetzungswillen.
Ihre Mahlzeit an diesem Abend bestand aus unreifen Früchten, die sie, noch genießbar, an einem verendeten Rebenschwein fanden, heruntergespült mit kläglichen Scherzen darüber, was für ein guter Jahrgang es war. An ihrem zweiten Tag im Land der Winzer stießen sie auf den Schauplatz eines Massakers an den Marodeuren. Die New Crobuzoner Miliz war nicht ganz ungeschoren geblieben, hier hatte die Rache sie ereilt. Sie fanden die Überreste eines Nashorns, eisengepanzert und umgestaltet zu einem lebenden Panzer. Mehr als haushoch, ausgestattet mit einer erhöhten Heckbatterie und einem durch Dampfkolben verstärkten Nacken. Das Horn war gedreht, ein riesiger Drillbohrer. Jetzt war es tot, zerhackt, verstümmelt von Bauernwaffen. Die Eingeweide, mechanisch und organisch, waren herausgerissen und verstreut.
Sechs Milizzer waren ebenfalls tot. Cutter starrte auf die vertrauten Uniformen an diesem fremden Ort. Die Männer waren mit scharfen Klingen niedergemacht worden, wahrscheinlich solchen Rebenmessern, wie einige am Tatort lagen.
Die Gegend hatte keinen Mangel an Aasfressern. Liebhaber toten Fleisches, vom Aussehen an einen Fuchs gemahnend, wühlten in der Erde. In dieser Nacht weckte Drogon die Gefährten mit einem Schuss. » Ghul«, flüsterte er jedem einzeln zu. Sie glaubten ihm nicht, doch am Morgen war der Leichnam zu besichtigen: grabesblass, affengestaltig, das Maul mit den vielen Zähnen weit aufgerissen. Blut trocknete an der augenlosen Stirn.
Sie setzten ihren Weg fort, nach Norden, und es kam ihnen vor, als ob sich eine zaghafte Linderung der Hitze bemerkbar machte. Aber es war nur der erste, leise Hauch kühlerer Zonen. In dem Glutofen, mit den Ghulen und den Toten und unter dem erstickenden Miasma gärender, faulender Früchte und erkaltender Brandstätten, in einem Land, welches zu einer vergewaltigten Erinnerung seiner selbst geworden war, fühlte Cutter sich, als wandere er durch den Vorhof irgendeiner Hölle.
In den Tagen des Marschierens über transversale Bodenwellen wurden fern im Norden hinter Dunstschleiern bewaldete Berge sichtbar. Judah war hocherfreut. »Da ist das Ende der Steppe, das ist Galaggis nördliche Grenze.«
Hinter ihnen war die Erde aufgewühlt von dem Pulk der Miliz. Sie hatten den verheerten Landstrich der Hirten
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