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Der Eiserne Rat

Der Eiserne Rat

Titel: Der Eiserne Rat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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zur Legende werden. Sogar hier draußen.
    »Und weshalb ist er geblieben?«, fragte Elsie.
    »Judah hat ihn begeistert, nicht wahr?«, meinte Cutter ruhig. »Er begeistert uns alle.« Er sagte es ohne eine Spur von Sarkasmus.
    Cutter ging dicht hinter Susullil. In der Abenddämmerung gelangten sie auf eine Lichtung, und hätte Susullil ihn nicht zur Seite gestoßen, wäre Cutter in den Kreis aus bemoosten Knochen getreten – verräterische Anzeichen für einen Schmätzerbaum. Ähnlich einer Weide, hatte der Baum Ruten mit gefiedertem Laub, dazu wie Farn mit Dornen besetzt. Cutter konnte nicht erkennen, von welchen Tieren die Knochen stammten, aber manche, blank und weiß, stammten aus jüngerer Zeit.
    Ein Mann – auf wer weiß welchen Wegen aus der Tiefe des Waldes hierher geraten – saß in den unteren Ästen des Baumes. Oberkörper und Kopf steckten in einem Zweig- und Laubgeflecht. Seine Beine baumelten, schlenkerten, zuckten unter den Nötigungen des Baumes, der ihn sich einverleibte. Susullil trat in die Reichweite des Schmätzers, und Cutter stieß einen Schreckensschrei aus.
    Der Baum neigte Greifarm-Zweige, die in seine Richtung spielten, mit einer Zufälligkeit, die nichts anderes sein mochte als das harmlose Wiegen von Laubwerk im Wind. Der Weinhirt rollte unter dem Zugriff hinweg, sein Rebenmesser blitzte, und schon war er mit einem Überschlag und zwei Seitwärtsdrehungen aus dem Anemonenschatten heraus. Die Beine des gefangenen Waldläufers strampelten.
    »Gitt, das ist wi-der-lich«, sagte Elsie. Susullil hielt die Frucht hoch, die er abgeschnitten hatte – klein, bräunlich, höckerig. Sie hatte erkennbar die Form eines menschlichen Kopfes. Von allen Atzfrüchten hatte Susullil ausgerechnet eine der menschlichen gewählt.
    Auch ein kultureller Unterschied, dachte Cutter, als sie an dem Abend um das Feuer saßen und Susullil verzehrte, was er geerntet hatte. Pomeroy und Elsie, sogar der zurückhaltende Judah, begleiteten jeden Bissen mit Lauten des Abscheus. Sie hätten ebenso wenig Atzfrucht gegessen wie Hundedreck. Cutter drehte sich der Magen um, als er Susullil schlucken sah und sich hinlegen, um den Rückstand aus eines toten Mannes Hirn zu träumen. Der Weinhirt schaute ihn einmal an, bedeutungsvoll, bevor er die Augen schloss.
    Pomeroy und Elsie zogen sich zurück, Judah und Cutter unterhielten sich noch eine Weile. Als Judah sich schließlich ebenfalls zum Schlafen hinlegte, fing Cutter seinen beifälligen Blick auf und war überzeugt, dass Judah wusste, was er zu tun gedachte. Ein vertrautes Gemisch von Emotionen durchströmte ihn.
    Er wartete lange, bis tiefe Atemzüge ihm verrieten, dass alle schliefen, und der Mond das Lager in bleiche Helligkeit tauchte. Als er Susullil anstieß, um ihn zu wecken und ihn lustvoll küsste, glaubte er, immer noch den toten Mann auf seiner Zunge zu schmecken.

 
Kapitel 12
     
     
    Sonnenlicht drang durch den dicht verwobenen grünen Baldachin. Elsie und Pomeroy sahen Cutter dicht neben Susullil liegen. Sie machten sich daran, das Lager abzubrechen, wortlos und ohne Cutter anzuschauen.
    Falls Susullil ihre Verlegenheit bemerkte, zeigte er es nicht, hatte auch für Cutter keine Geste der Zuneigung, als wäre die Nacht vergessen. Während Cutter die Decke zusammenrollte, die sein und Susullils Kopfkissen gewesen war, kam Judah und lächelte ihn an, liebevoll und gütig.
    Cutter spürte, wie ihm das Blut brennend heiß ins Gesicht stieg. Er schluckte. Er hörte auf zu packen und richtete sich auf. Er beugte sich vor und sagte leise, sodass nur der Somaturg es hören konnte: »Niemals, nicht heute und auch künftig nicht, brauche ich deinen verdammten Segen, Judah.«
     

     
    Es war genau wie damals in New Crobuzon, wenn Cutter jemanden mit nach Hause nahm und unterwegs Judah traf. In der Cypress Row, in der Salom Square Kasbah. Einmal war Judah früh an einem Schontagmorgen bei Cutter vorbeigekommen, und geöffnet wurde ihm von dem schwarzhaarigen Jungen, neben dem Cutter aufgewacht war. Wie immer, wenn er Cutters Partner sah, hatte Judah freundlich-versonnen gelächelt, beifällig, auch dann noch, als Cutter den jungen Mann zur Seite schob, zu Judah hinaustrat und die Tür hinter sich schloss.
    Wenn Cutter auf Freite ging, ertappte er sich dabei, dass er immer wieder über die Schulter blickte, aus Angst, Judah wäre da und könnte ihn sehen.
    Cutter wünschte sich oft, er wäre ein Maler oder ein Musiker, ein Schriftsteller oder libertärer Feuilletonist,

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