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Der Eiserne Rat

Der Eiserne Rat

Titel: Der Eiserne Rat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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den ersten zwei Tagen hörten sie Schüsse hinter sich. Danach hörten sie tagelang nichts, was nichts an ihrer Überzeugung änderte, dass sie immer noch verfolgt wurden. Sie behielten ihr hohes Marschtempo bei und bemühten sich, die Spuren zu verwischen.
    Die Weinhirten blieben bei ihnen. Ihre Namen waren Behellua und Susullil. Oft wurden sie von Trauer übermannt, ergingen sich in zum Teil rituellem, tränenreichem Wehklagen, bejammerten den Verlust ihres Traubenviehs. Abends am Feuer skandierten sie lange Gesänge, unbekümmert darum, dass ihre neuen Freunde nichts verstanden. Judah konnte nur einzelne Bruchstücke übersetzen.
    »Es hat etwas mit Regen zu tun«, erklärte er zum Beispiel. »Oder mit Donner, vielleicht, und – jetzt geht es um eine Schlange und einen Mund und um Brot.«
    Elsie hatte Schnaps in ihrem Packen: Die Weinhirten wurden betrunken. Sie tanzten eine Geschichte. An einer Stelle vollführten sie einen akrobatischen kleinen Doppelhüpfer und zeigten, als sie sich wieder herumdrehten, ihren Zuschauern neue Gesichter – durch claneigene Thaumaturgie in scherzhafte Dämonenfratzen verwandelt. Ihre Zähne ragten aus dem Mund wie krumme Hauer. Sie schnitten Grimassen und zogen die Ohren lang wie Fledermausflügel, solange der Zauber währte.
    Die Weinhirten wollten wissen, wohin die Gefährten unterwegs waren. Judah bemühte sich zu erklären, radebrechend und mit Händen und Füßen; wie er Cutter nachher erzählte, hatte er ihnen gesagt, sie wären auf der Suche nach Freunden, nach einem Mythos, nach etwas Verlorenem, nach etwas, das sie retten müssten, das eines Tages ihre Rettung sein würde, nach dem Eisernen Rat. Die Weinhirten machten große Augen. Cutter wusste nicht, was sie zum Bleiben veranlasste. Abends lehrten und lernten sie Brocken ihrer beider Sprachen. Cutter beobachtete Susullil und sah, dass Susullil es bemerkte.
    Jeden Morgen fiel ein warmer Nieselregen, als ob auch der Urwald schwitzte. Sie hackten sich durch Lianen und Unterholz, wehrten sich erfolglos gegen Moskitos und Vampirschmetterlinge. Abends fielen sie um, wo sie standen, verschwitzt, verdreckt, erschöpft, übersät mit Hunderten blutiger Stiche und Bisse. Pomeroy und Elsie rauchten und benutzten die glühende Zigarillospitze, um sich von Blutsaugern zu befreien.
    Ihr Weg führte ständig aufwärts. Der Wald veränderte sich, wurde kühler, die Baumarten höherer Regionen verdrängten die subtropischen Gewächse. Das Laubdach senkte sich. Ibisse und Nektarvögel äugten zu ihnen hinunter. Die Weinhirten kochten Taschenkrebse. Behellua wurde um ein Haar von einem Riesen-Schuppentier getötet, das seine giftige Zunge vorschnellen ließ. Selten, wenn einem von ihnen die Beine zu schwer wurden, erlegte Drogon ihnen einen Flüsterbann auf – mit dem Einverständnis aller, ausgenommen Pomeroy – und befahl ihnen geh, und sie mussten gehorchen.
    »Weißt du den Weg, Judah?«
    Judah nickte Cutter zu, beratschlagte mit Drogon, nickte wieder, aber Cutter spürte die Unsicherheit in ihm. Er konsultierte seinen Kompass und die feucht und lappig werdenden Karten.
    Cutter empfand plötzlich eine überwältigende Müdigkeit, als wäre New Crobuzon ihm ans Bein gekettet und er schleppte es auf Schritt und Tritt hinter sich her. Als würde jeder neue Ort infiziert von dem, den er verlassen hatte.
    Pomeroy und Elsie fanden wieder Gefallen an ihrem Liebesspiel. Judah schlief allein. Cutter lauschte und sah, dass auch Behellua und Susullil aufhorchten. Zu seinem Erstaunen wurde er Zeuge, wie sie in ihrer Muttersprache miteinander flüsterten, sich dann hinsetzten und anfingen, wie selbstverständlich im Takt zu masturbieren, dabei streichelten sie sich gegenseitig. Sie spürten seine Blicke und hielten inne, und er schloss rasch die Augen, als Susullil einladend auf sein steifes Glied deutete, wie jemand, der ein Glas Wein anbietet.
    Am Morgen war Behellua fort. Susullil versuchte zu erklären.
    »Zur Baumstadt gegangen«, sagte Judah nach langem Hin und Her. »Da gibt es eine Siedlung. Wo die hingehen, die von der Miliz heimatlos gemacht wurden. Sämtliche Vertriebene aus einem Dutzend Dörfer, Chelonier, Nomaden aus der Buschsteppe. Eine Stadt der Entwurzelten mitten im Wald. Wo sie einen Gott gefunden haben, der dir alles sagen kann, was du wissen willst. Er sagt – Behellua ist hingegangen, um ihnen zu erzählen – von uns.«
    Von dir, dachte Cutter. Von dir und dem, was du getan hast. Sie vor der Miliz gerettet. Du wirst

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