Der eiserne Tiger
ganz
anderer Mensch geworden zu sein. Sie hielt sich kerzengerade,
fühlte sich wieder ganz sicher. Von diesem Handwerk verstand sie
etwas. Sie zog den Kittel an und unterhielt sich mit dem alten Mann.
Zwischen den beiden herrschte sofort eine sonderbare Vertrautheit.
Drummond wandte sich abrupt ab, bahnte sich einen Weg durch die Menge, sprang in den Jeep und fuhr rasch davon.
5. Kapitel
DINNER IM PALAST
Durch die Balkontüren sah man
auf die weißschimmernde Balustrade der Terrasse. Die Umrisse der
hohen Zypressen zeichneten sich deutlich gegen den Nachthimmel ab. Im
Park zirpten Grillen.
Drinnen erglänzten
Kristallkaraffen sowie silbernes und goldenes Tafelgeschirr im sanften
Licht, und der große Rubin, der den Turban des Khans
schmückte, leuchtete wie ein verglühendes Stück Kohle,
das von einer schwachen Brise umweht ist.
Der Khan war siebzig Jahre alt,
machte aber in seinem in London maßgeschneiderten Dinnerjackett
aus Mohair und Seide noch immer eine sehr gute Figur. Das Gesicht unter
dem Turban war immer noch das eines Kriegers, stolz und unbesiegbar.
Seine Züge waren von der Arroganz des Menschen geprägt, der
es gewohnt ist zu herrschen.
Er saß am Kopfende des Tisches,
Janet Tate zu seiner Linken. Er wandte sich ihr lächelnd zu und
fragte sie in präzisem Englisch: »Noch einen Brandy,
Miß Tate?«
»Nein, vielen Dank.«
»Aber vielleicht noch ein wenig Kaffee?«
Er schnippte mit den Fingern. Sofort kam ein Diener herbeigeeilt. Fünf Diener standen neben dem Khan am Tisch.
Janet sah in ihrem schlichten
schwarzen Seidenkleid wunderschön aus. Jack Drummond, der links
von ihr saß, trug ein weißes Dinnerjackett. Father Kerrigan
saß zur Rechten des Khans und hatte auf der anderen Seite Mr.
Cheung neben sich. Hamid und Oberst Sher Dil, Befehlshaber der kleinen
Armee des Khans, saßen einander gegenüber, beide in
prächtigen Ausgehuniformen.
»Sind Sie bei Father Kerrigan gut untergebracht, Miß Tate?«
»Ja, allerbestens.«
Der Khan seufzte. »Ich
hätte Sie gern hier im Palast zu Gast gehabt, aber er ist ein
starrköpfiger alter Mann.«
»Wenn das stimmt,
wüßte ich keine tausend Meilen von hier noch einen anderen
starrköpfigen alten Mann«, erwiderte der Priester mit der
Vertrautheit eines alten Freundes und griff nach der Karaffe mit dem
Brandy. »Stellen Sie sich vor, Janet, er hat doch
tatsächlich von mir erwartet, daß ich alle anderen Patienten
im Stich lasse, die Missionsstation schließe und mich hier im
Palast einniste.«
Der Khan zuckte hilflos die Achseln.
»Was soll man da machen? Er hat sogar die Wachtposten wieder
weggeschickt, die ich zur Verfügung stellen wollte. Wer
schützt in diesem Augenblick die einzige Hoffnung Balpurs,
können Sie mir das vielleicht sagen?« forderte er den
Geistlichen heraus.
»Da müssen Sie mir schon
sagen, wer ihm in Baipur etwas zuleide tun würde«, konterte
der Geistliche.
Der Khan seufzte. »Nun
hören Sie sich das an, Miß Tate. Ich bin nicht einmal Herr
in meinem eigenen Hause.«
»Wenn Sie es unbedingt wissen
wollen, in diesem Augenblick sitzt die alte Nerida am Bett Ihres
Sohnes«, sagte Father Kerrigan. »Sie würde sich eher
einen Arm abhacken lassen, als sich von dort fortzurühren, bevor
ich wieder da bin.«
»Haben Sie Kerim heute gesehen?« fragte der Khan Janet. »Geht es ihm gut?«
Sie nickte. »Aber er ist immer
noch ziemlich geschwächt. Eine solche Verletzung ist ein
großer Schock für den gesamten Organismus, besonders bei
einem Kind.«
»Dieses Kind wird in drei
Jahren ein Mann sein, das ist ein großer Unterschied. Es ist bei
uns Brauch, daß er dann dem Volk präsentiert wird und dann
nötigenfalls jederzeit meine Nachfolge antreten kann. Deshalb ist
mir sehr daran gelegen, daß er die Reise nach Amerika so bald wie
möglich antritt.«
»Ein paar Tage müssen wir
noch warten«, erklärte Father Kerrigan. »Ich bin
sicher, daß mir Miß Tate darin zustimmen
wird.«
Der Khan sah Janet fragend an. Sie
nickte. »Ich finde auch, daß wir lieber noch ein paar Tage
warten sollten. Es eilt auch wirklich nicht. Kerim kann schon einen
Monat nach der Operation wieder zurück sein.«
Er breitete die Arme aus. »Dann
muß ich mich vor dem Wind verneigen. Spielen Sie Schach,
Miß Tate?«
»Nicht besonders gut. «
»Father Kerrigan hält sich
für einen meisterhaften Schachspieler. Es ist daher immer wieder
meine
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